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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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blutete, und brüllte ihn an:
    »Hurensohn, Bastard! Ich wusste, dass du sie vergewaltigst, du Scheißkerl!«
    Nun sprangen auch die anderen Jungen von den Bänken und prügelten auf ihren Kumpel ein.
    Der Alte überließ ihnen den Jungen und drehte sich zu uns um, als ob er etwas sagen wollte. Gagarin befahl ihm zu sprechen, und sofort begann er, vermischt mit diversen Flüchen und Beleidigungen, für die er in unserem Viertel den Tod verdient gehabt hätte, Worte auszuspucken, die so viel besagten wie das, was wir schon begriffen hatten: Der Junge mit dem entstellten Gesicht sei es gewesen, er habe das Mädchen vergewaltigt.
    »Wir waren auf dem Markt«, sagte der Alte, »ich hab gesehen, wie er der Kleinen nachging, und hab ihm noch hinterhergerufen, er soll das nicht machen, aber er ist verschwunden, ich hab ihn nicht mehr gesehen, weiß nicht, was dann passiert ist.«
    Seine Geschichte war so dämlich und naiv, dass keiner von uns auch nur für eine Sekunde daran glaubte.
    Gagarin forderte ihn auf, das Mädchen zu beschreiben, und da kam der Alte völlig ins Schleudern, begann irgendwas Unverständliches zu flüstern und mit den Händen zu fuchteln, als wollte er die Umrisse einer Frau beschreiben.
    Als Nächstes sah ich nur, wie der Stock in Gagarins Hand unglaublich schnell und heftig auf den Kopf des anderen heruntersauste. Der Alte wurde ohnmächtig, aus seiner Nase lief Blut.
    Die anderen hörten sofort auf, den falschen Vergewaltiger zu schlagen – der eine so bedauernswertschwächliche und mutlose Erscheinung war, dass er nicht einmal fähig gewesen wäre, sich einen runterzuholen –, und flohen in alle Richtungen.
    Unter dem Mast zurück blieben nur der Alte, der mit zertrümmertem Schädel in seinem Blut lag, und der Junge, den sie für das Geld hatten opfern wollen. Ich war ohnehin schon traurig und verzweifelt, aber dieser Anblick und dieser Verrat machten mein Herz noch schwerer.
    Unverrichteter Dinge verließen wir das Viertel in der Hoffnung, dass sich wenigstens die, die abgehauen waren, auf die Suche nach dem wahren Vergewaltiger machen würden, um ihn an uns zu verkaufen.

    Als Nächstes fuhren wir zu »Großmutter Maschas Signalpfeife«. Das war ein Privathaus, in dem besagte Großmutter Mascha eine Art Restaurant für Kriminelle betrieb. Man konnte dort gut essen, und die Atmosphäre war warm und familiär.
    Großmutter Mascha hatte in ihrer Jugend bei der Eisenbahn gearbeitet und trug noch immer die Signalpfeife um den Hals, mit der sie die Abfahrt der Züge angekündigt hatte, daher der Name des Lokals.
    Sie hatte drei Söhne, die in verschiedenen russischen Knästen langjährige Strafen absaßen.
    In die Signalpfeife gingen die Leute nicht nur, um einen Happen zu essen, sondern auch, um einen friedlichen Abend zu verbringen, über Geschäfte zu reden, Karten zu spielen – oder um etwas im Keller zu verstecken, der randvoll war mit Zeug, das irgendwelche Kriminelle dort deponiert hatten wie in einem Bankschließfach: Manchmal gab die Großmutter sogar eine Empfangsbestätigung aus, ein sorgfältig aus einem Heft herausgerissenes Stück Papier, auf der sie mit ihrer beinahe makellosen Handschrift vermerkte:
    » Die ehrliche Hand (im Kriminellenjargon ein Verbrecher) hat im teuren Zähnchen (sicherer Ort) ein Stangenbrot mit in Öl eingelegten Pilzen und dazu drei Köpfe grünen Wirsing (also ein Automatikgewehr mit Schalldämpfer und Magazinen sowie dreitausend Dollar) gedreht (deponiert). Gott segne uns, möge Er das Böse und alle Gefahren von unseren armen Seelen fernhalten (eine Redensart, mit der man sich unter Kriminellen Glück und ein gutes Gelingen für ein gemeinsames Geschäft wünscht). Gezeichnet, die arme Mutter (eine Frau, deren Söhne oder Ehemann im Knast sitzen: in der Verbrechergemeinschaft ist das eine Art Familienstand, so wie Witwe oder Junggeselle) Mascha «.
    Großmutter Mascha machte extrem leckere Pelmeni , mit viel Fleisch gefüllte große Ravioli, ein sibirisches Gericht, das überall in der Sowjetunion verbreitet ist. Wenn sie welche machen wollte, ließ sie das ein paar Tage vorher bekanntgeben: Sie schickte die jungen Obdachlosen los, die sie im Gegenzug für ein wenig Hilfe in der Küche und diesen oder jenen Auftrag in ihrem Haus wohnen ließ. Die Jungen nahmen ihre Fahrräder und fuhren zu den Orten, an denen sich die richtigen Leute trafen, um ihnen Großmutter Maschas Speisezettel mitzuteilen.
    Darüber hinaus verbreiteten sie die jüngsten Neuigkeiten:

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