Sibirische Erziehung
damals überhaupt keine Angst, denn wir hatten einen Auftrag zu erfüllen.
Kaum hatten wir den Fuß ins Labyrinth gesetzt, kam uns der älteste Sohn des Wirts entgegen, ein Junge namens Mino. Ich kannte ihn vom Sehen, wusste, dass er einruhiger Typ war, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Er grüßte uns, gab jedem die Hand und führte uns an einen Tisch. Wir setzten uns, und er befahl einem Mädchen, Wein und georgisches Brot zu bringen, auf seine Rechnung. Unaufgefordert begann er zu erzählen, was er im Zentrum gesehen hatte.
Er war mit Freunden dort gewesen, unter anderem drei armenischen Jungen, von denen einer nicht weit entfernt einen Blumenstand auf dem Markt hatte. In der Nähe der Telefonzellen, die ein beliebter Treffpunkt sind, sahen sie eine Gruppe von ungefähr zehn Jugendlichen, die betrunken waren oder unter Drogen standen und mit ungehörigem, drohendem Gebaren ein Mädchen belästigten. Einer der Armenier sagte, sie sollten sie in Ruhe lassen, aber die anderen beschimpften ihn, und einer zeigte ihm sogar seine Pistole und befahl ihm, zu verschwinden.
»Da haben wir uns lieber zurückgezogen«, sagte Mino. »Ja, wir haben das Mädchen diesen Rüpeln überlassen, aber nur, weil wir nicht recht wussten, wer sie waren. Wir hatten Angst, dass sie vielleicht zum Zentrum gehören und meinem Freund den Blumenstand wegnehmen könnten ...«
Minos Beschreibung des Mädchens schien aber nicht auf unsere Ksjuscha zu passen.
Inzwischen hatte die Kellnerin uns georgischen Wein und das typische Brot gebracht, das zum Backen an die Wand des Steinofens geklebt wird. Das Brot schmeckte äußerst lecker, und wir saßen da mit Mino, aßen und tranken genüsslich und redeten über dies und das. Auch über die Beziehungen zwischen uns und den Georgiern.
Er fand, dass wir Recht hatten und dass seine Landsleute sich beschämend verhalten hatten, wie Verräter.
»Und außerdem sind wir doch alle Christen, oder?«, sagte er. »Wir glauben an Jesus Christus. Und wir sindalle Kriminelle, und das kriminelle Gesetz gilt für alle, Georgier, Sibirer, Armenier ...«.
Er erzählte uns, dass die georgische Gemeinschaft seit einiger Zeit in zwei Lager gespalten war. Ein Teil unterstützte einen reichen jungen Georgier aus adeliger Familie, der sich »der Graf« nennen ließ. Dieser Graf schürte den Hass gegen die Russen und verbot den Georgiern, Russinnen oder Armenierinnen zu heiraten, damit die Rasse rein blieb. Mino, der ihn »Hitler« nannte, war ziemlich wütend auf ihn, weil er die Gemeinschaft schwächte. Die übrigen Georgier folgten einem alten Kriminellen, den wir kannten, weil er oft in die Unterstadt zu Besuch kam. Dieser Großvater Eitel war ein weiser Mann, hatte lange Zeit im Knast in Sibirien verbracht und war in der gesamten Verbrechergemeinschaft hochangesehen. Vor allem die Alten mochten ihn. Unter den Jüngeren war er nicht so beliebt, weil er die Freuden des süßen Lebens verbot und gegen den Nationalismus wetterte.
Minos Bericht machte uns deutlich, dass die Lage schwieriger war, als es auf den ersten Blick vielleicht aussah, weil die Spaltung auch mitten durch Familien ging und sich viele Söhne, Brüder und Väter auf die jeweils gegnerische Seite geschlagen hatten. Unter diesen Umständen war ein Krieg unmöglich, daher hing alles in der Schwebe, und das, sagte Mino, war noch gefährlicher als offener Krieg.
Irgendwann betraten fünf junge Männer das Lokal, nicht älter als fünfundzwanzig. Sie sprachen Mino auf Georgisch an, er stand sofort auf und ging mit ihnen an den Tresen.
Sie schienen ziemlich geladen, ein paar Mal sah ich, wie sie auf uns zeigten. Erst redeten alle durcheinander, dann begann ihr Anführer zu sprechen, ein dünner Typ mit Augen, die jedes Mal, wenn er lauter sprach, aus den Höhlen traten.
Aber Mino war ganz ruhig, er lehnte mit einem Glas Wein in der Hand am Tresen, hörte ihnen zu und betrachtete unbeeindruckt den Boden.
Unvermittelt hörte der Anführer auf zu reden, und die fünf gingen wieder. Mino kam an unseren Tisch gelaufen und erklärte uns erschrocken, dass es Leute aus der Bande des Grafen gewesen waren.
»Wenn ihr nicht sofort das Viertel verlasst, wollen sie Verstärkung holen und euch umbringen, haben sie gesagt.«
Nach dem warmherzigen Empfang durch Mino kam uns diese Drohung unwirklich vor.
Einer von uns, der »Stumme«, sagte:
»Ich verwette meine rechte Hand, dass die uns draußen auflauern.«
Der Stumme hieß so, weil er fast nie
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