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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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illegal Produktion und Handel betrieben und Verbindungen zu den Direktoren der großen Fabriken hatten. Dass eine Frau eine Bande anführte, war in Sibirien durchaus üblich: Frauen mit kriminellen Funktionen werden liebevoll »Mama«, »Mama Katze« oder »diebische Mama« genannt und werden immer gehört, denn was sie vorschlagen, gilt als perfekte Lösung, als die reine kriminelle Weisheit.
    Teufels Mutter hatte mehrmals im Gefängnis gesessen,Teufel selbst war im Sondergefängnis für Frauen im sibirischen Magadan zur Welt gekommen. Die Freiheit hatte er zum ersten Mal im Alter von acht Jahren gesehen. Die Erziehung im Gefängnis war ihm deutlich anzumerken und hatte unauslöschliche Spuren hinterlassen: vor allem eine Menge Wut.
    Seinen Vater hatte Teufel nie kennengelernt. Seine Mutter hatte ihm erzählt, sie hätte aus Mitgefühl eine Nacht mit einem zum Tode Verurteilten verbracht, nachdem sie per Zug ins Gefängnis von Kurgan gebracht worden war, in einen Sonderblock. Kaum war sie in der Zelle, bekam sie ein Briefchen aus der Nachbarzelle: Ein junger Mann mit dem Beinamen »Teufel« bat sie, die Nacht mit ihm zu verbringen. Aus Mitleid und aus einer Art Solidarität unter Kriminellen hatte die Frau die Bitte des zum Tode Verurteilen akzeptiert, und nachdem die Wärter bezahlt worden waren, hatte man sie in seine Zelle gebracht. Sie wurde schwanger. Nach einigen Monaten erfuhr sie durch den geheimen Briefverkehr der Häftlinge, dass der Erzeuger des Kindes, das sie im Bauch trug, eine Woche nach ihrer Begegnung hingerichtet worden war. Sie beschloss, dem Kind seinen Namen zu geben. Über diesen Mann wusste sie nur, dass er ein Polizistenmörder war, dass er schön war und viele weiße Haare hatte, die Teufel geerbt haben musste: »Er gleicht seinem Vater wie Adam dem Schöpfergott«, pflegte die Mutter zu sagen.
    Seit ich ihn kannte, hatte Teufel eine fixe Idee. In dem Gefängnis, wo er aufgewachsen war, hatte er von irgendeinem anderen Kind die Geschichte mit dem Kremlstern gehört, dem Stern auf dem Hauptturm, wo sich auch die riesige Uhr befindet. Angeblich wog der Stern fünfhundert Kilo und war aus massivem Gold und nur zum Schutz rot lackiert. Unter den Kindern der Kriminellen und vor allem in den Jugendgefängnissen kursieren jedeMenge derartiger Geschichten: Immer geht es um einen riesigen Schatz, der sich an einem berühmten Ort verbirgt, vor aller Augen, aber ungeheuer schwer zu stehlen. Doch wer es schafft, der hat für immer ausgesorgt. Da ist die Geschichte mit den Diamanten, die Zarin Katharina II. in der Brücke der Hoffnung in Moskau versteckt haben soll, zusammen mit der Leiche ihrer Gouvernante, die sie eigenhändig tötete, weil sie ihr die Diamanten stehlen wollte. Und die Geschichte der goldenen Rüstung des Ritters Elja von Murom, vergraben unter dem Denkmal Zar Alexanders III. in einem Kloster bei Moskau.
    All diese Märchen erzählte man sich, um die Zeit totzuschlagen und sich etwas Geheimnisvolles auszudenken; immer lief es auf etwas Kriminelles hinaus, damit hinterher niemand sagen konnte, es wäre nur Zeitverschwendung gewesen. Ob bourgeoise Intrigen, Beschreibungen des Lebens am Hof des Zaren, Kriege, Helden, Ritter, Geister, geheimnisvolle Diebe und raffinierte Mordmethoden – am Ende galt es immer, einen Schatz zu stehlen: einen Schatz, der nur darauf wartete, dass jemand ihn sich holte.
    Nach der Geschichte fragten die Zuhörer dann:
    »Sag mal, wenn du das Geheimnis kennst, warum machst du nicht Gebrauch davon? Warum gehst du nicht hin und holst dir den Schatz?«
    Die raffinierteste Antwort lautete:
    »Ich bin ein ehrbarer Verbrechter, mir genügt es, wenn ihr mir für die Geschichte was zu rauchen spendiert.«
    Alle spendierten was, und dann begannen sie zu planen, wie man die nationalen Baudenkmäler zerstören könnte, um an den Schatz zu gelangen. Teufel war keine Ausnahme: Auch er hatte bis ins Kleinste einen Plan ausgearbeitet, wie man den Stern auf dem Kremlturm abmontieren könnte. Manchmal griff er den Plan wieder auf,um ein bisschen daran zu feilen. Früher hatte er gar nicht gewusst, dass man nicht so ohne Weiteres in den Kreml reinkam, und als er es (durch mich) erfuhr, beschloss er, sich gefälschte Papiere der Wachen zu besorgen, fünf Wachmänner auf dem Weg zur Arbeit zu entführen und dann als Wache verkleidet in den Kreml zu gelangen. Anfangs hatte er vorgehabt, den Stern mit Hilfe eines Krans abzubauen, den er irgendwo auf einer Baustelle mitgehen lassen

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