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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wollte. Irgendwann beschloss er, mehr Risiko einzugehen: Er wollte ihn eigenhändig absägen, an Seile binden und dann runterfallen lassen (mit der Ästhetik hatten wir’s sowieso nicht, und hinterher hätten wir ihn eh zerschlagen, um an das Gold zu kommen) und unten in ein Auto laden und den Kreml wieder verlassen. Damit der Stern beim Herunterfallen nicht zu viel Lärm machte, musste man ihn – laut Teufels Plan – in Tücher hüllen.
    Teufel hörte nie auf, diesen Jahrhundertcoup vorzubereiten, und wir hatten die Ehre, als Gehilfen in das Projekt eingebunden zu sein. Er sprach ganz ernst darüber, und wegen seines hitzigen Temperaments wagte keiner, ihm zu widersprechen.
    Unterdessen fuhren wir mit unseren bescheidenen kriminellen Aktivitäten fort, ohne den Coup des Jahrhunderts zu landen, begnügten uns einstweilen mit kleineren Geschäften und sahen zu, dass Teufel immer in der Planungsphase seines Projektes steckenblieb, damit er bloß nie in die entscheidende Phase kam oder gar zur Durchführung. In letzter Zeit war er allerdings ziemlich unruhig gewesen, vielleicht dämmerte ihm langsam, dass wir anderen gar nicht so scharf darauf waren wie er, den Kremlstern zu klauen.

    Wir verließen das Blinnaja mit vollen Bäuchen und beschlossen, uns aufzuteilen. Gagarin sollte mit Grab, Katerund Dschigit in dem einen Auto die Lokale abklappern und mit den Kriminellen des jeweiligen Viertels sprechen, während ich, Mel, der Stumme und Teufel zu Onkel Fedja fahren sollten, einem alten Freund meines Vaters. Er besaß am anderen Ende der Stadt eine riesige Disko und wusste alles über jeden; aufgrund seines Verbrechergespürs und seiner Menschenkenntnis konnte er sogar Dinge vorhersagen, bevor sie passierten.
    Onkel Fedja war, was man in der Verbrechergemeinschaft einen »Heiligen« nennt, was ein Ausdruck des größten Respekts ist. Ein Heiliger ist ein Krimineller, der nach den strengen Regeln der Selbstbeherrschung lebt und bemüht ist, in jeder Hinsicht ein perfektes Beispiel für die kriminelle Ideologie abzugeben. Der Heilige lebt fernab der anderen, ein Eremit, und wie den alten Autoritäten gehört ihm nichts, darf er nichts besitzen: Selbst die Kleidung, die er trägt, gehört ihm nicht, sondern ist ein Geschenk von anderen Kriminellen. Im Unterschied zu den Autoritäten hat er allerdings keine reale Macht über die anderen, seine Lebensführung ist lediglich Vorbild, ein Leben unter strikter Beachtung der kriminellen Gesetze.
    Der Heilige schickt alle seine Einkünfte ins Gefängnis: Nur er darf die Spenden direkt an einzelne Häftlinge verteilen, ohne Umweg über den Obschtschak , die Gemeinschaftskasse der Kriminellen. So kommt die Hilfe noch sicherer bei den einzelnen Häftlingen an. Für den Verwalter des Obschtschak ist es nämlich oft schwer, alle zufriedenzustellen, vor allem in großen Knästen mit manchmal mehr als dreißigtausend Häftlingen und Hunderten von Blöcken: Dann teilt der Verwalter die Kasse unter seinen Gehilfen in den einzelnen Zellen auf, die sich aber oft uneins sind und in Streit geraten, und darum besteht die Gefahr, dass viele Insassen gar keine materielle Hilfebekommen. Diese Häftlinge unterstützt dann der Heilige, weil seine Rolle ihm erlaubt, sich über jeden internen Konflikt hinwegzusetzen.
    Der Heilige hat kein Recht, die anderen Kriminellen zu verurteilen, er muss stets neutral bleiben. Aber er kann dazu beitragen, Konflikte zu lösen, indem er mit allen Parteien spricht, ohne sich selbst hineinziehen zu lassen. Im Gegensatz zu den alten Autoritäten darf er auch mit Geld in Berührung kommen und selbst Verbrechen begehen.
    Heiliger zu werden ist keine Entscheidung aus freiem Willen: Es ist eine Rolle, die man, wie alle Rollen innerhalb der Verbrechergemeinschaft, aufgrund individueller Fähigkeiten und besonderer Begabungen angetragen bekommt.
    Die Heiligen übernehmen die seltensten Ämter in der Verbrechergemeinschaft: Sie sind es, die das Gros des gemeinsamen Geldes verwalten, es von den Gemeinschaften einsammeln und in die Gefängnisse schicken, entweder bar oder in Form von materieller Unterstützung. Das ist auch der Grund, weshalb die Heiligen unter besonderem Schutz stehen.
    In ganz Bender gab es nur drei Heilige. Der erste, Großvater Dimjan, genannt »Uschanka«, ein Sibirer aus unserem Viertel, starb Ende der Achtzigerjahre an Altersschwäche. Der zweite, Onkel Kostja, genannt »Wald«, ebenfalls aus unserem Viertel, wurde Anfang der Neunziger bei einer

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