Sibirische Erziehung
frühstücken.
Das Uferviertel lag im schönsten Teil der Stadt. Dort gab es direkt am Fluss einen großen Park mit Stränden und anderen Orten, wo man abhängen und schöne Stunden verbringen konnte. Die teuersten Restaurants, Lokale und Nachtclubs der Stadt befanden sich dort. Es gab sogar eine geheime Spielhölle, in die man nur mit Einladung reinkam.
Das Viertel wurde von verschiedenen Kriminellen aus Bender organisiert und war eine Touristenattraktion: Leute aus Odessa, reiche Juden und diverse Geschäftsleute, bei denen es als exotisch galt, ein bisschen kriminelle Luft zu schnuppern, kamen in Scharen. Den echten Kriminellen war es untersagt, im Uferviertel persönliche Angelegenheiten zu klären. Wenn doch jemand Probleme machte oder Unruhe stiftete, dann nur als eigens für die Gäste veranstaltete Inszenierung, damit sie glaubten, sie wären an wunders was für einem verrufenen Ort gelandet: Sie sollten sich in Gefahr wähnen, ein bisschen Adrenalin ausschütten. In Wirklichkeit ist in diesem Viertel nie was Ernstes passiert.
Im Blinnaja gab es die besten Crêpes der ganzen Stadt. In Russland heißen Crêpes Blini , und jeder macht sie auf seine Art: Die besten sind die der Don-Kosaken, die Hefe zum Teig zugeben und das Ganze dann mit viel Butter kurz in der glühendheißen Pfanne backen; die Blini , die herauskommen, sind fest, ausgesprochen fettig und knusprig, ein unvergesslicher Geschmack.
Im Blinnaja aß man sie auf sibirische Art, mit saurer Sahne und Honig, dazu wurde schwarzer Tee mit Zitrone getrunken.
Im Lokal waren nur wenige Leute. Wir waren ziemlich müde und bestellten für den Anfang etwa fünfzig Blini (ein Russe verzehrt im Durchschnitt mindestens fünfzehn Blini auf einmal, und Kerle wie Mel oder Gagarin auch mal das Dreifache). In drei Minuten war der Teller leer. Wir bestellten noch zwei Teller. Den Tee gossen wir direkt aus dem Samowar ein, der ständig auf dem Tisch stand; dann und wann kam der Kellner vorbei und schüttete Wasser nach. Bei uns darf man nämlich in vielen Lokalen beliebig viel Tee trinken; unabhängig davon, was man bestellt, kann jeder so viel Tee trinken, wie in ihn reinpasst, und kosten tut er auch nichts.
Während wir aßen und tranken, fassten wir die Lage noch mal zusammen. Die Stimmung in der Truppe war ziemlich gut, aber wir waren auch nervös und drängten auf Sühne.
»Ich kann’s nicht abwarten, diesem Vergewaltigerschwein das Genick zu brechen«, sagte der Stumme.
Wir müssen uns wirklich im Ausnahmezustand befinden, dachte ich, denn es war schon das zweite Mal in zwei Tagen, dass der Stumme den Mund aufmachte.
Mir ging durch den Kopf, dass wir schon ein seltsamer Haufen waren. Ich dachte an die Geschichten, die ein jeder von uns durchgemacht hatte. Vor allem Dschigit und Teufel.
Dschigit war der Sohn eines sibirischen Kriminellen und einer Armenierin, die gestorben war, als er gerade sechs war: Einer ihrer Brüder brachte sie um, weil sie durch ihre Heirat mit einem sibirischen Kriminellen den Namen der Familie entehrt hatte.
Dschigit war ein guter Junge mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Bei Schlägereien stürmte er immer vorneweg, darum hatte er auch jede Menge Narben. Ein paar Mal war er ziemlich schwer verletzt worden, und einmal hatte ich Blut für ihn gespendet, weil meine Blutgruppe sich mit allen anderen verträgt. Damals hatte er sich in den Kopf gesetzt, dass wir nun Blutsbrüder geworden seien, und versuchte bei jeder Gelegenheit, mir den Rücken freizuhalten; immer wenn ich Hilfe brauchte, war er zur Stelle. Wir waren Freunde, verstanden uns ohne viel Worte. Er war ein ruhiger Typ, der gern las, mit ihm konnte man sogar über Literatur reden. Aber wenn ein gewisser Punkt überschritten war, war’s aus mit der Ruhe. Einen Jungen aus dem Zentrum hatte er mit einem Hammer erschlagen, weil der versucht hatte, ihn bei einem Mädchen, bei dem er Eindruck schinden wollte, runterzuputzen. Dschigit hatte dann eine Liebesbeziehung mit ihr, und auch danach blieben sie gute Freunde.
Teufel war ein harter Brocken. Er war ein Jahr jünger als ich, sah aber viel älter aus, weil er schon viele weiße Haare hatte. Er war nicht in unserem Viertel geboren, sondern in Sibirien. Seine Mutter, Tante Swetlana, war Anführerin einer kleinen Räuberbande, mit der sie Turnej unternahm, Raubzüge von Stadt zu Stadt. Ihre Opfer waren reiche Leute, die örtlichen Politiker und vor allem die sogenannten »heimlichen Industriellen«: Leute, die
Weitere Kostenlose Bücher