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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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großen Schießerei zwischen Kriminellen und Polizisten in Sankt Petersburg getötet. Der dritte war Onkel Fedja, der letzte Heilige von Bender.
    Onkel Fedja hatte ein sonniges, positives Gemüt und ähnelte einem Mönch mehr als einem Kriminellen. In seiner Jugend hatte er drei Polizisten ermordet und war zum Tode verurteilt worden, aber dann war die Strafe in lebenslange Haft umgewandelt worden. Nach dreißigJahren im Sondergefängnis, da war er bereits über fünfzig, wurde er als »für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft geeignetes Subjekt« beurteilt und entlassen. Sehr bald war er ein Heiliger geworden. Er verwaltete mehrere Geschäftszweige und hatte dazu eine Schar zuverlässiger Krimineller um sich, fast alles Sibirer. Sie lebten im selben Haus mit ihm, ohne Familien: Sie standen ganz im Dienst der Verbrechergemeinschaft, halfen den Leuten im Knast und denen, die gerade entlassen worden waren, unterstützten die Familien von verstorbenen oder alten Kriminellen. Um Geld zu verdienen, betrieben sie eine Reihe von Lokalen.
    Was immer in der Stadt passierte, man konnte sicher sein, dass Onkel Fedjas Männer davon wussten. Sie standen mit den Häftlingen selbst in den entlegensten Gefängnissen der Sowjetunion in Kontakt, sogar in Sibirien, und konnten innerhalb kürzester Zeit die nötigen Informationen beschaffen.
    Angesichts ihres Rangs innerhalb unserer Gesellschaft hielt ich es für wichtig, ihn über das Geschehene in Kenntnis zu setzen. Auch wenn es nichts Wesentliches zu unseren Nachforschungen beitragen würde, war es trotzdem ein Zeichen unseres Respekts, durch das wir dann anderweitig auf Hilfe hoffen konnten, bei der Logistik oder bei der Auswertung von Informationen.

    Das Haus des Heiligen hatte mehrere Wohnungen, einen Hof und einen hübschen Garten mit Tischen und Bänken. Nach alter Sitte hatte man das Tor herausgerissen und vor dem Eingang auf dem Boden liegen gelassen, als Zeichen dafür, dass dieses Haus allen offenstand: Immer waren irgendwelche Gäste da, Leute aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion, die den Heiligen und seine Freunde besuchen kamen.
    Auch ich war oft Gast in diesem Haus, weil mein Vater und Onkel Fedja befreundet waren, sie hatten gemeinsam Geschäfte gemacht und teilten die Leidenschaft für Taubenzucht. Weil Onkel Fedja sich nichts kaufen durfte, schenkte mein Vater ihm die Tauben: Der Heilige hielt sie in seinem Haus, betonte aber immer, dass sie meinem Vater gehörten, und wenn mir im Gespräch ein Kompliment für eine »seiner« Tauben herausrutschte, korrigierte Onkel Fedja mich jedes Mal und sagte, dass diese Tauben nicht ihm gehörten, sondern dass er sie nur bei sich hielte, weil bei uns zu Hause zu wenig Platz sei.
    Auch an diesem Tag war Onkel Fedja auf dem Dach, wo er in einem besonderen Verschlag »die Tauben meines Vaters« hielt. Er sah mich auf der Straße und machte mir Zeichen, raufzukommen. Ich deutete auf meine Truppe, und er wiederholte seine Geste, lud uns alle ein. Wir stiegen die drei Stockwerke hinauf, grüßten die Leute, die wir unterwegs trafen, bis wir bei der Tür anlangten, die auf den Dachboden führte. Bevor wir sie öffneten, nahmen wir unsere Waffen und legten sie auf das Bord, auf dem der Eimer mit dem Futter für die Tauben stand. Das Gesetz untersagte es, einem Heiligen bewaffnet gegenüberzutreten. Nicht einmal ein Messer darf man bei sich tragen, und das ist von besonderer Bedeutung: Das Messer gilt als Kultgegenstand, wie ein Kreuz, man trägt es immer bei sich. Doch wenn man einem Heiligen gegenübertritt, muss man auch das Messer ablegen, um des Heiligen Macht zu unterstreichen, die über Stärke und Geld erhaben ist.
    Als wir die Pistolen und Messer ablegten, bekam Mel mit, wie ich die Nagant von Großvater Kusja auf das Bord legte. Er machte ein verdutztes Gesicht, normalerweise wusste er es immer, wenn ich eine neue Waffe hatte, und als er jetzt merkte, dass ich sie ihm nicht gezeigt hatte,bereitete ihm das Kopfzerbrechen. Fast beleidigt fragte er mich, woher ich sie hätte.
    »Erzähl ich dir später«, antwortete ich, »ist eine lange Geschichte.«
    Ich bemerkte, wie sein eines Auge mich voller Abscheu ansah.
    Ich öffnete die kleine Tür, und wir stiegen die schmale Treppe zum Dach hinauf. Onkel Fedja stand mitten unter den Tauben, die Getreidekörner pickten, und hielt ein Pärchen in den Händen. Ich sah, dass es Baku-Tauben waren, die gut fliegen und vor allem gut »schlagen« konnten – so nennen wir die

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