Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
die deswegenverurteilt worden waren, wurden im Gefängnis umgebracht; in Freiheit oft auch, aber das Gefängnis verließen sie nur selten lebend. Die Ukrainer kapierten nicht mal das, sie zogen durch die Viertel der Stadt und versuchten vergeblich, die Lokale zu betreten: Immer waren ihnen die Türen verschlossen, weil das Geld, das sie ausgeben wollten, auf unwürdige Weise verdient worden war. Sie aber machten weiter, ohne je etwas zu hinterfragen, und vergrößerten den Abstand zwischen ihrer Gemeinschaft und der übrigen Stadt immer weiter.

    Das Balka-Viertel zog sich an einer einzigen Straße entlang, und an dieser Straße stand der Kiosk eines alten ukrainischen Kriminellen namens Stepan. Er verkaufte Zigaretten, Getränke und manchmal auch Drogen, normalerweise welche zum Rauchen. Man konnte bei ihm aber auch Waffen und Munition kaufen, die aus ukrainischen Militärbeständen stammten und mit Hilfe seines älteren Bruders beschafft wurden, der Berufssoldat war.
    Stepan war halbseitig gelähmt, weil er einmal Industriealkohol getrunken hatte. Wenn er von diesem schrecklichen Tag erzählte, dann machte er immer Witze darüber: Als er gespürt habe, wie die linke Hälfte seines Körpers immer tauber wurde, habe er gerade noch rechtzeitig sein »Ehrenmitglied« auf die rechte Seite geschoben und es so gerettet.
    Ich machte oft bei Stepan halt, um ein wenig mit ihm zu plaudern, und weil mir gefiel, wie es ihm trotz seiner ziemlich hoffnungslosen Lage gelang, Lebenswillen und gute Laune zu beweisen. Den ganzen Tag saß er im Rollstuhl unter einem großen Sonnenschirm vor seinem Kiosk und redete mit den Leuten, die vorbeikamen. Er hatte eine Tochter – vielleicht das einzige anständige Mädchen im ganzen Viertel –, die Architektur studierte und sichnebenher um ihn kümmerte. Seine Frau hatte ihn kurz vor dem Unfall verlassen und war mit ihrem Liebhaber, einem jungen Krankenpfleger, durchgebrannt. Ich respektierte Stepan schon allein deshalb, weil es ihm gelungen war, seine Tochter großzuziehen und er selbst zu bleiben, ein einfacher, unwissender Mensch, aber anständig, dem Ergebnis nach zu urteilen, der seine natürliche Güte auf andere zu übertragen vermochte.
    Der Kiosk hatte immer geöffnet, tagsüber arbeitete Stepan, manchmal half seine Tochter aus; die Nachtschicht übernahm sein treuer Helfer, ein Junge namens Kiril, den alle »Nixon« nannten, weil er ein Faible für amerikanische Präsidenten hatte. Viele sagten, er sei zurückgeblieben, aber ich glaube, dass er sich einfach nur die Zeit nahm, die er brauchte. Stepan bezahlte ihn mit Lebensmitteln und Zigaretten. Nixon rauchte auf eine sehenswerte Art, wie ein Schauspieler. Er hatte einen Hund, einen hässlichen kleinen Mischling mit unsympathischem Wesen, der einen mit unterwürfigem, treudoofem Blick ansah und dann, wenn man am wenigsten damit rechnete, in die Waden biss. Nixon nannte ihn »Sekretär« oder manchmal auch »werter Herr«, einen anderen Namen hatte der Hund nicht.
    Wenn man mit Nixon ein Gespräch anfing, dann begann er immer über die Kommunisten herzuziehen: Er behauptete, dass sie sein Land zerstören wollten, nannte sie »dreckige Terroristen« und sagte, dass er niemandem traue außer seinem »Sekretär«, der bei diesen Gelegenheiten seine Treue unter Beweis stellte, indem er mit seinem widerlich kahlen kleinen Schwanz gegen das Bein seines Herrchens klopfte.
    »Die Araber sind Unruhestifter«, sagte er, »und Fidel Castro sollte man umbringen, aber das geht nicht. Und weißt du warum? Er hat sich mit Hilfe der Kommunistenin Sibirien versteckt. In Kuba haben sie einen Doppelgänger installiert, der ihm aber überhaupt nicht ähnlich sieht, sein Bart ist viel zu unecht, und er raucht die Zigarren ohne zu inhalieren.«
    Das war Nixon, wie er leibte und lebte. »Weißt du eigentlich, was die amerikanische Flagge darstellt?«, fragte er. »Ich werd’s dir sagen: einen toten Kommunisten. Die Sterne sind die Fetzen seines Gehirns, nachdem sie ihm in den Kopf geschossen haben, und die weißen und roten Streifen sind seine blutüberströmte Haut.«
    Er hatte auch was gegen Schwarze, weil ihre Anwesenheit angeblich den Fortschritt der Demokratie behindert hatte. Martin Luther King verwechselte er mit Michael Jackson, sagte, er sei »ein guter Neger gewesen, der gern tanzte und sang«, aber die anderen Neger hätten ihn umgebracht, nachdem er beschlossen hatte, weiß werden zu wollen.

    Als wir am Kiosk vorfuhren, saß Nixon wie immer

Weitere Kostenlose Bücher