Sibirische Erziehung
eigenhändig der Schwester den kleinen Finger bräche, würden sie ihm alle Finger brechen, einen nach dem anderen. In einer langen und schrecklichen Tortur brachen sie ihm vor den Augen der Mutter sechs Finger. Er hatte panische Angst und schrie die ganze Zeit, er könne es nicht mehr aushalten. Irgendwann packte seine Mutter in einem Anfall von Wahnsinn und Verzweiflung die kleine Lesja, die sie in den Armen hielt, und schlug sie mit dem Kopf gegen die Wand. Dann versuchte sie, auch ihn zu töten, aber die Köter konnten sie davon abhalten und schlugen sie brutal zusammen. Sie verließ jenen Block nicht lebend.
Pflaume warfen sie halb tot und mit gebrochenen Fingern hinaus in den Schnee, damit er in der Kälte krepierte. Er wollte nur noch so schnell wie möglich sterben und aß darum Schnee, um schneller zu erfrieren. In der Nähe arbeitete gerade ein Trupp normaler Gefangener, Kriminelle, die Holz für den Bau der Baracken zuschnitten, die für die Erweiterung des Lagers errichtet wurden. Als sie das Kind im Schnee sahen, hoben sie es auf und nahmen es in ihre Obhut. Die Wachen drückten ein Auge zu, weil diegemeinen Gefangenen – zumindest am Anfang, bevor der sowjetische Strafvollzug zu einer perfekten Maschinerie, zu einem Fließband wurde – anders behandelt wurden als die politischen: Die Verwaltung fürchtete sie, weil sie untereinander einig und sehr gut organisiert waren und weil sie regelrechte Revolten anzetteln konnten, wenn sie wollten.
So lebte Pflaume fortan bei ihnen in den Baracken. Einer heilte seine Finger, indem er sie mit weichen Holzstöckchen schiente und sorgfältig verband. Die Kriminellen kümmerten sich um ihn, sie erzogen ihn und gaben ihm einen Namen: »Pflaume«, wegen der Farbe seines Gesichts, das immer blau war, weil er so schrecklich fror.
Mit fünfzehn wurde Pflaume zum »Vollstrecker« der Bande. Im Lager war ein Krieg unter den Kriminellen ausgebrochen: Die einen – unter ihnen auch Pflaumes Freunde – waren auf Seiten der alten Autoritäten, die anderen ernannten eigene Autoritäten und stellten neue Regeln auf. Diese waren in der Überzahl, sie kamen von ganz unten und gehörten der Generation der Kriegswaisen an, das heißt, sie standen für eine im Lager wie im übrigen Russland noch nie dagewesene kriminelle Richtung, in der Unwissenheit, Grausamkeit und das Fehlen moralischer Gesetze hoch im Kurs standen. Eines Nachts schlichen sich Pflaume und seine Kumpane in die Baracken der Sijani – der skrupellosen jungen Kriminellen – und töteten sie, erstachen sie im Schlaf. Bevor die anderen kapierten, was los war, hatten sie schon die halbe Baracke umgebracht.
Pflaume hat in seinem Leben unzählige Menschen getötet. Ich vermute mal, dass ihn genau das gerettet hat. Vielleicht gelang es ihm so, indem er seinen Zorn auslebte, trotz seines schrecklichen Kindheitstraumas psychisch gesund zu bleiben.
Er hatte viele Knäste von innen gesehen, lebte aberauch lange Zeit als freier Mann, immer als krimineller Vollstrecker. Er heiratete eine gute Frau, bekam drei Söhne und zwei Töchter. Auf seine rechte Hand, wo sie ihm die Finger gebrochen hatten, war ein Totenkopf mit Polizistenmütze tätowiert. Auf der Stirn prangte der Satz: » As vosdam «, was in altem Russisch bedeutet: »Ich werde mich rächen«.
Ob es ihm Rache genug war, weiß ich nicht, aber er tat nichts anderes als Polizisten zu töten. Er besaß eine riesige Sammlung an Dienstmarken von Polizisten und anderen Ordnungshütern, die er in seiner langen Karriere umgelegt hatte: Sie stapelten sich allesamt auf einer großen Kommode im roten Winkel seines Hauses, unter den Ikonen, wo auch das alte Familienfoto hing, vor dem immer eine Kerze brannte.
Ich habe diese Sammlung mit eigenen Augen gesehen. Sie war beeindruckend. Haufenweise Dienstmarken aus verschiedenen Epochen, von den Fünfzigern bis Mitte der Achtziger, einige blutverschmiert, andere von Kugeln durchlöchert. Alle Gattungen waren vertreten: Polizisten aus diversen russischen Städten, Angehörige von Spezialeinheiten zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, KGB-Agenten, Beamte des Strafvollzugs, Mitarbeiter der Ermittlungsbehörde.
Mehr als zwölftausend seien es, sagte Pflaume, es sei ihm aber nicht bei allen gelungen, die Marken mitzunehmen. Er erinnerte sich bei jedem ganz genau, wie und wann er ihn getötet hatte. Während ich sie betrachtete, sagte er immer wieder:
»Sieh sie dir gut an, Söhnchen, diese Gesichter von Mördern ... Die
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