Sibirische Erziehung
sowieso gegenseitig um. Aber wenn du ihnen Angst einjagst, dann kommen sie richtig auf Trab, und wer weiß, vielleicht finden sie unseren Mann in all dem Abfall, der dort wohnt.«
Dann riet er uns noch, die Leute im Zentrum stärker unter Druck zu setzen, weil ein Teil der Schuld im Grunde auch die traf, die dort wohnten, denn das Mädchen war auf ihrem Gebiet vergewaltigt worden. Er war der Meinung (und Leute wie er irrten sich selten), dass die Verantwortlichen im Zentrum schon mal »Briefe nach Hause schreiben« könnten, das heißt, sich auf einen gewaltigen Zusammenstoß mit dem Unbekannten einstellen sollten.
Onkel Fedja missbilligte Gagarins großzügige Entscheidung, den Jungs aus dem Zentrum einen halben Tag Zeit zu geben, um ohne Wissen ihres Warts Informationen zu sammeln.
»Um Gottes willen«, sagte er, »was kümmert es uns, ob der Wart wütend auf sie wird? Das täte ihnen nur gut, denn sie haben sich als unfähig erwiesen. Die Leute aus dem Zentrum haben nichts anderes im Sinn als Frauen zu bespringen und Karten zu spielen, sie kleiden sich wie Affen, sehen aus wie Zigeuner, so mit Gold behangen sind sie, und wenn in ihrem Viertel mal was passiert, scheißen sie sich vor den Augen der ganzen Stadt in die Hose ... Nein, ihr geht jetzt direkt zum Wart und sagt, wenn er euch nicht bis heute Abend diese Idioten herbeischafft, die in seinem Viertel Unheil angerichtet haben, während er und seine Leute schliefen, dann werdet ihr sämtliche Autoritäten über die Sache informieren ... Sollt mal sehen, ob sie sie euch auf einem silbernen Tablett servieren werden, sollt mal sehen ...«
Ich sah im Geist die Szene schon vor mir. Der Wart des Zentrums würde uns nicht einmal empfangen, und Gelegenheit, ihm Vorhaltungen zu machen oder gar zu drohen, würden wir erst recht nicht bekommen. Aber, wie mein Onkel selig immer sagte: »Wer nichts riskiert, der trinkt keinen Champagner.«
Wir bedankten uns bei Onkel Fedja für denfreundlichen Empfang, für die wertvollen Ratschläge und die Erhöhung des Kopfgelds und gingen. Wir wollten wieder zum Rest der Gruppe stoßen und das Treffen mit den Leuten aus dem Zentrum planen.
Der Treffpunkt mit den anderen war das Café des alten Pflaume, eines Kriminellen, der schon seit langer Zeit an keinen Aktivitäten mehr teilnahm und sich nur noch seinem Café widmete, das heißt, er saß die ganze Zeit an einem Tischchen und trank oder aß irgendwas, während seine beiden Enkelinnen die Arbeit machten.
Pflaume war wegen seines schweren, leidvollen Lebens stadtbekannt. Er stammte nicht aus einer Verbrecherfamilie: Seine Eltern waren gebildete Menschen, Intellektuelle, der Vater war Chemiker und Forscher, die Mutter unterrichtete Literatur an der Moskauer Universität. Ende der Dreißigerjahre, als das Stalin-Regime das Land mit einer Welle des Terrors überzog, wurden seine Eltern verhaftet und zu Volksfeinden erklärt. Den Vater beschuldigten sie, Beziehungen zu amerikanischen und englischen Spionen zu unterhalten, der Mutter warf man vor, antisowjetische Propaganda zu verbreiten. Die ganze Familie, einschließlich der beiden Kinder – Pflaume, der zu der Zeit zwölf war, und seine kleine Schwester Lesja, die kaum älter als drei war –, wurde ins Lager nach Workuta deportiert. Die dortigen Genossen Kommunisten, Patrioten und Weltfriedensstifter folterten die politischen Gefangenen auf barbarische Art und Weise. Pflaumes Vater, der eine schwache Konstitution hatte, war in Folge der Schläge und einer heftigen Lungenentzündung bereits im Zug gestorben. In Workuta wurden Mutter und Kinder nur deshalb nicht getrennt, weil der Block für die Kinder noch nicht gebaut war. Lange blieben sie an diesem Ort und sahen um sich herum die Menschen massenweise durch Kälte,Krankheiten, Parasiten, Misshandlungen und Unterernährung sterben.
Eines Tages, erzählte Pflaume, wurden seine Schwester, seine Mutter und er an einen Ort gebracht, an dem eine sogenannte »Spezialeinheit für interne Ermittlungen« ihr Unwesen trieb: ein Haufen brutaler Schlächter, die die Verurteilten folterten – nicht um an Informationen zu kommen, sondern zur »Umerziehung«. Die Mutter musste sich und ihre Kinder vor den Wachen ausziehen, dann begannen sie sie zu schlagen. Die Kinder stellten sie in eine Ecke und zwangen sie mitanzusehen, wie ihre Mutter gequält wurde. Dann nahmen sich die Bestien Pflaume vor, für den sie sich ein lustiges Spielchen ausdachten: Sie sagten zu ihm, wenn seine Mutter nicht
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