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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Tränen der Menschen fallen nicht auf die Erde, der Herr fängt sie vorher auf.«
    Seinen Töchtern hatte er aufgetragen, die Marken nach seinem Tod ans Innenministerium in Moskau zu schicken,zusammen mit einem Brief, an dem er sein ganzes Leben lang geschrieben und gefeilt hatte.
    Er zeigte mir diesen Brief, der ein ganzes Heft füllte und in dem er sich über alles Mögliche ausließ: seine Lebensgeschichte, die Gründe für seinen Zorn, seine Art, die Welt zu sehen. Am Ende nannte er einige Orte, an denen er Polizistenleichen versteckt hatte, und bezeichnete dies als großzügige Geste seinerseits, weil die Toten dadurch ein Grab bekämen. Auch wenn viele Jahre vergangen waren, wüssten die Familienangehörigen so wenigstens, wo sie sie beweinen könnten, während ihm nicht die Möglichkeit gegeben worden war, am Grab seines Vaters, seiner Mutter, seiner Schwester zu weinen.
    Einen Teil des Hefts machten Gedichte aus, sehr einfache, naive Gedichte, die einem roh vorkommen mochten, wenn man die Geschichte nicht bedachte, die dahinterstand. Ich erinnere mich an eins, das seiner kleinen Schwester Lesja gewidmet war, vielleicht das längste von allen. Er nannte sie darin »unschuldiger Engel Unseres mildtätigen Herrn«, sagte, dass sie lächelte wie »der Himmel nach dem Regen«, dass ihre Haare »leuchteten wie die Sonne« und die Farbe »eines Weizenfelds hatten, das zur Ernte bereit ist«. Mit einfachen und liebevollen Worten, ohne ein Reimschema zu befolgen, erzählte er, wie lieb er sie hatte, und bat sie um Vergebung dafür, dass er nicht standhaft gewesen war, als die Köter ihm die Finger brachen, denn er war »klein, nur ein Kind, das Angst vor dem Schmerz hatte, wie alle Kinder«. Und dass ihre Mutter ihr den Kopf an der Wand eingeschlagen hatte, nannte er »die großherzige Tat einer liebenden, verzweifelten Mutter, ich weiß, dass du sie verstehst und dass ihr jetzt zusammen im Paradies Unseres Herrn seid«.
    Das Gedicht machte einem begreiflich, wie einfach und in vieler Hinsicht primitiv, zugleich auf ihre Art aber auch schön und großmütig Pflaumes Seele war.
    Jetzt, wo er alt und seine Frau tot war, litt Pflaume unter der Einsamkeit. Im Café suchte er immer die Gesellschaft der anderen, erzählte aus seinem Leben, zeigte auf das lebensgroße Gruppenporträt seiner Familie, das dort hing.
    Ich plauderte gern mit ihm, er war immer bereit, seine Weisheit mit mir zu teilen und mir etwas beizubringen.
    Durch ihn lernte ich, wie man mit der Pistole schießt; die Grundlagen hatten mir natürlich Vater, Onkel und Großvater beigebracht, aber ich war zu dünn und hatte kleine, zarte Hände, so dass es mir beim Schießen nicht gelang, die Waffe zu kontrollieren, ich umklammerte sie zu fest. Er fuhr mit mir auf den Fluss hinaus, wo man in aller Ruhe ins Wasser schießen konnte, ohne Angst, jemanden zu verletzen, und sagte zu mir:
    »Lass die Hand locker, Junge.«
    Wir benutzten eine Tokarew 7,62, eine recht große und wirksame Waffe, die gut ausbalanciert war und mit wenig Rückstoß. Später brachte er mir auch die mazedonische Methode bei, die vor allem im Laufen sehr nützlich ist, wenn man zwei Pistolen gleichzeitig benutzt.
    Kurz, ich ging oft und gern zu ihm. Zumal seine Enkelin eine gute Freundin von mir war und den besten Apfelkuchen der Stadt backte.

    Als wir Pflaumes Café betraten, waren unsere Freunde noch nicht da. Er saß wie immer an seinem Tisch, trank Tee und aß Kuchen. Als er mich sah, legte er den Gedichtband, in dem er gelesen hatte, beiseite und kam mir entgegen, um mich zu umarmen:
    »Söhnchen, wie geht es dir? Habt ihr ihn erwischt?«
    Offenbar wusste er schon alles, und ich dachte: Umso besser, da muss ich die schmerzliche Geschichte nicht noch einmal erzählen.
    Ich sagte, dass wir noch immer nach dem Täter suchten, und er bot mir sofort seine Hilfe in Form von Geld oder Waffen an.
    Ich antwortete, dass wir fast schon zu viel Geld hätten – und Waffen vielleicht auch. Aber, wie man in Sibirien sagt: »Man muss beim Gehen Lärm machen, wenn man den alten, tauben Tiger nicht beleidigen will«, also fügte ich hinzu:
    »Aber wenn du es unter deinen Gästen weitersagst und die Ohren offenhältst, das kann nicht schaden. Und der Kuchen deiner Enkelin mit einem Tee dazu wäre uns ein großer Trost.«
    Wenig später saßen wir alle um den Tisch herum, aßen Kuchen und tranken Tee mit Zitrone, genau das, was wir nach Onkel Fedjas Tschifir brauchten. Und dieser Kuchen ... kaum hatte man

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