Sibirische Erziehung
Beine gaben nach, aber Gagarin hielt seinen Hals weiter fest im Griff und schlug immer wieder auf die gleiche Stelle. Genauso plötzlich, wie er losgeschlagen hatte, hielt Gagarin inne und ließ den anderen fallen wie einen Sack. Zehn Sekunden, dann begann er auf ihn einzutreten. Das reinste Gemetzel.
Als Gagarin fertig war und zu dem Tisch hinüberging, an dem Pawel saß (bleich wie ein Toter, mit einem StückSchwein im Hals, das er nicht herunterwürgen konnte), bemerkte ich, dass wir alle unsere Waffen gezogen hatten, auch ich.
Gagarin angelte sich mit dem Fuß einen Stuhl und setzte sich. Er wartete nicht ab, bis die Unruhe, die die Misshandlung des Clowns unter den Leuten vom Zentrum ausgelöst hatte, sich gelegt hatte, sondern begann sofort, Pawel zu beschimpfen. Er benutzte äußerst beleidigende Worte, sprach zu ihm wie zu einer Person, deren Schicksal schon besiegelt ist.
Das war ein großes Risiko, aber wenn es funktionierte, wenn wir Pawels Leuten Angst einjagen und unter ihnen Chaos stiften konnten, hatten wir gewonnen. Kein Krimineller, der was auf sich hält, wird sich auf die Seite eines Warts schlagen, der wegen seiner Verfehlungen kurz vor dem Untergang steht: Vielleicht konnten wir so einen Keil zwischen ihn und seine Leute schlagen.
Gagarin hatte eine riskante Entscheidung getroffen, und zum Glück hatte er uns nichts davon gesagt, denn ganz bestimmt wären alle dagegen gewesen, mich eingeschlossen. Aber nun hatten wir den Tanz begonnen, also mussten wir weitertanzen, und zwar gut, sonst würden sie uns vom Parkett fegen.
Gagarins Botschaft war einfach: Er warf Pawel Unfähigkeit vor und beleidigte ihn öffentlich, um ihn vor seinen Männern herabzusetzen.
Und es funktionierte, Pawels Gesichtsausdruck hatte gewechselt, er war bleich geworden, und auch seine Sitzhaltung hatte sich verändert: Vorher waren die Schultern noch straff und die Brust geschwellt gewesen, jetzt hingen die Schultern herunter, der Brustkorb war eingesunken, und alles in allem sah er aus wie ein Häufchen vertrocknete Scheiße. Nur seine Augen blickten noch genauso zornig und verächtlich wie vorher.
Gagarin warf ihm vor, er hätte uns von Anfang an schlecht behandelt, bloß weil wir Minderjährige waren, ohne Rücksicht darauf, dass wir in diesem Moment vor allem Vertreter unseres Viertels und der gesamten sibirischen Gemeinschaft waren, die durch uns versuchte, eine Situation zu bereinigen, die in allen ehrbaren kriminellen Gemeinschaften als äußerst schwerwiegend galt.
Er sagte, dass er unsere Alten darüber informiert hatte, was am Morgen passiert war: dass Pawel nicht mit uns hatte sprechen wollen und zwei seiner Gehilfen geschickt hatte, die sich jedoch als unzuverlässig erwiesen hatten und zu dem vereinbarten Treffen nicht erschienen waren, wodurch sie seine Autorität in Zweifel gezogen hatten. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder er hatte die Lage in seinem Viertel nicht im Griff, oder, schlimmer noch, er versuchte, etwas Wichtiges vor uns zu verbergen.
»Alles, was wir wollen, ist, unsere Aufgabe zu einem guten Ende bringen«, sagte Gagarin an die Anwesenden gewandt, »alles andere geht uns nichts an. Die Autoritäten sind informiert und werden ihre Entscheidung treffen: Das ist es, was zählt.«
Pawel hatte Gagarin mit angewidertem Gesichtsausdruck zugehört. Plötzlich flippte er total aus. Er warf ihm seine dreckige Serviette mitten ins Gesicht, dann sprang er auf und zog die gleiche Show ab wie am Morgen: Er riss sein Hemd auf, zeigte wieder die alten Tätowierungen auf der Brust und die Goldketten, die bis zum Bauchnabel hingen, ließ in Verbrecherslang einen Schwall Wörter los, der, wenn man mal die Schimpfwörter und Beleidigungen wegließ, etwa Folgendes sagen sollte:
»Seit wann dürfen hier kleine Jungs mit erwachsenen Kriminellen reden?«
Am Ende wiederholte er immer den gleichen Satz:
»Du willst eine Autorität erschießen? Dann erschieß mich!«
Gagarin rührte sich nicht, ich konnte nicht erraten, was in seinem Kopf vorging.
Ich bemerkte, dass Pawels Leute etwas ausheckten, einer war aufgestanden und durch die Küche verschwunden. Pawel schrie immer weiter. Er kam zu uns herüber, ging von einem zum anderen und brüllte jedem einzelnen die Frage ins Gesicht, ob wir immer noch scharf drauf wären, ihn umzubringen.
Mel und die anderen rührten sich nicht und schwiegen, offensichtlich wollten sie nichts Falsches tun und warteten auf einen Befehl oder ein Zeichen Gagarins, der
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