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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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werden sie ihn, mehr nicht«, erwiderte ich. »Nach Bam muss er und da vermodern, bis ihn eines Tages irgendein Scheißer umbringt, der hinter seinem Goldkettchen her ist.«
    Es ist nicht üblich, dass zwei Minderjährige Vermutungen über die Zukunft eines angesehenen Kriminellen anstellen.
    In der Verbrecherwelt sollte man tunlichst vermeiden, sich in bestimmte Situationen zu bringen: Selbst wenn alles um einen rum falsch läuft und man sicher ist, im Recht zu sein, sollte man sich, wie mein Großvater immer sagte, »dreißigmal bekreuzigen«, bevor man seinen Entschlüssen Taten folgen lässt.
    Auf dem Kamm der höchsten Welle im Meer zu reiten ist ein gutes Gefühl, aber wie lange geht so eine Welle? Und was, wenn dieses Monster, auf dem man da reitet, einen abschüttelt wie einen lästigen Parasiten?
    Solche Fragen stelle ich mir immer, wenn ich spüre, dass der Moment naht, in dem ich auf eine große, gewaltige Welle aufspringe.
    Es gibt Kriminelle, die all die guten, gerechten Regeln und Gesetze vergessen, wenn sie merken, dass unter ihren Füßen der Boden nachgibt, und dann fliegt einem das Blei nur so um die Ohren, und keiner kann mehr für irgendwas garantieren.
    Da fuhren wir in ein Viertel, überlegte ich, das ein Mann kontrollierte, der nicht mal einen Gedanken an uns verschwendete, weil nach seinen Regeln Minderjährige überhaupt nicht zählten. Was würde passieren, wennausgerechnet diese Minderjährigen dafür sorgten, dass er seine Macht verlor? Er würde uns bestimmt nicht einfach ziehen lassen, nach einem solchen Tritt in den Arsch. Vielleicht würde er einen Krieg vom Zaun brechen, und dann würden wir ganz schnell von Jägern zu Gejagten. Wir konnten uns so gefährlich vorkommen, wie wir wollten, und es sogar sein, aber wenn wir es zu zehnt mit einem ganzen Viertel zu tun bekamen, dessen Wart auch noch durchgedreht war und es auf uns abgesehen hatte ... dann würden wir kurzerhand geschlachtet wie ein Schwein zu Neujahr, Schluss aus fertig.

    Vor dem Lokal im Zentrum, in dem wir ganz am Anfang unserer Tour schon mal gewesen waren, stand alles voller Autos. Also waren alle gekommen. Vielleicht wollten sie die Lage besprechen, vielleicht warteten sie aber auch auf uns. Die Luft, der Wind, der mir ins Gesicht blies, sagten mir, dass wir uns bereits auf der Welle befanden.
    Als wir aus dem Auto stiegen, sah ich zu Gagarin. Ich machte mir Gedanken über seinen Gemütszustand, schließlich musste er ja für uns alle reden, und von ihm, von dem, was er sagte und wie er es sagte, hing unser aller Zukunft ab.
    Gagarin war entspannt, an seinem listigen Blick erkannte ich, dass er einen Plan hatte.
    Als wir das Lokal betraten, sprachen wir nicht miteinander, um auf die anderen, die uns genau beobachteten, keinen verzagten Eindruck zu machen.
    Die ganze Gemeinschaft des Zentrums saß um einen Tisch versammelt, sie aßen und tranken. Ihr Wart Pawel hockte in der Mitte und biss mit wutverzerrtem Gesicht in eine gebratene Schweinekeule, dass das Fett nur so in alle Richtungen spritzte. Neben ihm saß der Provokateur, der uns schon beim ersten Mal beleidigt hatte: Kaum hatte eruns gesehen, sprang er auf. »Was wollt ihr schon wieder hier?«, schrie er wie ein Verrückter und fügte seiner Frage diverse Beleidigungen hinzu.
    Wir rührten uns nicht. Der Clown kam auf uns zu, wobei er sich mehrmals umdrehte, um am Gesicht seines Chefs abzulesen, ob der mit seinem Verhalten einverstanden war oder nicht. Pawel schien gleichgültig. Er aß weiter und tat so, als wären wir gar nicht da.
    Der Hampelmann ging auf Gagarin zu und brüllte ihm direkt ins Gesicht, und da packte Gagarin ihn urplötzlich mit der Linken am Hals (ein langer, dünner Hals, wie von einem Truthahn) und zog mit der Rechten langsam seine Tokarew aus der Tasche.
    Während er mit einer Hand dem Typen den Hals zudrückte, der vergeblich mit den Fäusten nach ihm schlug und dabei aussah wie ein auf einer Nadel aufgespießtes Insekt, blickte Gagarin unverwandt auf Pawel. Dann hob er die rechte Hand, in der er die Pistole hielt, und verharrte einen Augenblick lang in dieser Haltung: Der Clown begann zu brüllen wie ein waidwundes Tier und versuchte sein Gesicht so gut es ging aus der Reichweite von Gagarins rechter Hand herauszubekommen. Vergeblich. Denn plötzlich begann diese Hand mit der Pistole in unglaublichem Tempo in sein Gesicht zu schlagen. Wie ein Maschinengewehr.
    Im Nu war das Gesicht des Kerls eine einzige Wunde. Er wurde ohnmächtig, seine

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