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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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reglos am Tisch saß, mit dem Rücken zu uns.
    Als Pawel zu mir kam und ich den Geruch von Wein und Zwiebeln roch, der zusammen mit den immer gleichen Worten aus seinem widerlichen Mund kam, zog ich blitzschnell die Nagant von Großvater Kusja. Ich setzte sie auf die fette Wange dieses Wurms, drückte so fest, dass die Mündung in der Haut seines verblüfften Gesichts verschwand, und sagte:
    »Die hat Großvater Kusja für mich geladen, hast du verstanden? Er hat gesagt, dass ich jeden damit umbringen darf, der sich zwischen mich und den Vergewaltiger unserer Schwester stellt. Jeden, wenn nötig, auch eine Autorität.«
    Pawel rührte sich nicht und sah mich voller Wut, aber zugleich auch traurig an.
    Gagarin stand auf und teilte den Anwesenden mit, dass wir jetzt das Viertel verlassen und Pawel mitnehmen würden, um sicherzugehen, dass keiner auf uns schoss.
    Ein Mann, dessen Gesicht von einer langen Narbe entstellt war, die von der Stirn über sein rechtes Auge und die Nase bis hinunter zum Hals verlief, stand auf und sprach völlig ruhig zu uns:
    »Niemand wird euch was tun. Wir hatten uns schongeeinigt, bevor ihr gekommen seid: Wir wollten Pawel den Autoritäten melden.«
    Wir erfuhren, dass Pawel mit der Unterstützung einiger anderer, die man bereits an einem sicheren Ort eingesperrt hatte, eine Reihe von Morden und anderen subversiven Taten geplant hatte, um einen Krieg zwischen den verschiedenen Gemeinschaften zu entfachen. Sein Ziel war es, den Handel mit Alkohol unter seine Kontrolle zu bringen, der bisher in den Händen einer Gruppe von alten Kriminellen aus unterschiedlichen Vierteln lag.
    Während der Entstellte sprach, wurde Pawel immer bleicher: Durch das Metall meiner Pistole, die immer noch auf ihn gerichtet war, spürte ich, wie er innerlich zitterte. Das Spiel war aus, und er hatte begriffen, dass es keinen Ausweg gab.
    Der Entstellte nannte seinen Namen: »Bauch«. Ich hatte noch nie von ihm gehört. An der Art, wie er sprach und wie er dastand, mit krummem Rücken, den Kopf nach vorn gebeugt, erkannte ich, dass er wohl erst vor kurzem aus dem Gefängnis gekommen war. Wenig später kam die Bestätigung: Er war seit nicht mal einem Monat wieder draußen, sagte er. Im Knast hätten sich viele über die Art beklagt, wie Pawel das Gefängnis unterstützte. Hilfe erhielten nur handverlesene Leute, nie besuchte er jemanden, und er hatte interne Kriege mit verheerenden Folgen angezettelt. Im Auftrag mehrerer alter Krimineller hatte Bauch sich deshalb in Pawels Bande eingeschlichen, um ein Auge auf ihn zu haben und zu berichten.
    Das hieß, Bauch war ein Wojdot , ein krimineller Vollstrecker und Ermittler, der sich nur vor den alten Kriminellen zu verantworten hatte. Sein Auftrag lautete, von jüngeren Autoritäten und Warten begangene Regelverstöße aufzudecken.
    Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich sojemandem begegnete, denn gewöhnlich hielten sie ihre Identität geheim: Es bestätigte auch niemand, dass Bauch sein richtiger Name war.
    Bauch erzählte, dass Pawel eine Horde von jungen Ukrainern angeheuert hatte, um Unruhe zu stiften. Vergangenen Monat hatten sie zwei Leute umgebracht, und keiner war ihnen auf die Schliche gekommen, weil alles so angelegt war, dass es aussah, als kämen die Aggressoren aus einem anderen Viertel, was einen Kriegsgrund abgegeben hätte – die gleiche Methode, die einst die Köter angewandt hatten.
    Ich traute meinen Ohren nicht, das Ganze kam mir unwirklich vor.
    »Und Ksjuscha, warum haben sie sie vergewaltigt?«, fragte ich.
    »Aus Spaß. Weil sie ausgetickt sind. Ohne besonderen Grund«, antwortete er. »Aber die Sache hat eure Gemeinschaft auf den Plan gerufen, darum wollte Pawel, dass sie sich verstecken. Aber die haben trotzdem weiter Stunk gemacht.«
    Alle hatten sie gesehen, überall hatten sie ihre Spuren hinterlassen. Das waren die Leute, mit denen Gagarin und die anderen kurz zuvor aneinandergeraten waren und die danach versucht hatten, über Balka aus der Stadt zu fliehen: Stepan hatte sich gemeldet, als sie im Viertel aufgetaucht waren, sie hatten sich an seinem Kiosk Bier und Zigaretten genommen, ohne zu bezahlen, und Nixon verprügelt, der allerdings einen mit seiner Eisenstange verletzt hatte (eine schöne Überraschung für Leute, die auf Behinderte losgingen). An der Grenze zum Kaukasus hatte dann eine Gruppe von Armeniern sie abgefangen. Die Ukrainer hatten versucht, mit dem Geländewagen durch einen Gemüsegarten zu entkommen, und dabei

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