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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einen Armenier angefahren, aber schließlich waren sie in demkleinen Bach gelandet, der zwischen dem Kaukasus und Balka floss.
    All das war in den letzten beiden Stunden passiert, und jetzt waren diese Idioten Geiseln der Armenier, die uns erwarteten.
    Bauch wollte, dass wir zusammen hinführen, weil die Bestätigung, dass Pawel sie bezahlt hatte, in Anwesenheit von drei Zeugen gegeben werden musste: Nur so konnte er ihn vor die alten Autoritäten bringen, die dann über ihn urteilen würden.
    »Pawel könnt ihr behalten, bis ihr sicher seid, dass das, was ich euch gesagt habe, die Wahrheit ist«, schloss er.

    Einer von uns musste also Pawel seinen Platz überlassen und mit in Bauchs Auto fahren. Ich meldete mich, ohne den anderen Zeit zum Überlegen zu lassen.
    Das Auto, mit dem wir fuhren, steuerte einer aus dem Zentrum.
    »Liegt dir wirklich so viel daran, diese Leute umzubringen?«, fragte mich Bauch, als wir losfuhren.
    Ich dachte etwas nach, bevor ich antwortete:
    »Ich bin kein großer Mörder, es macht mir keinen Spaß zu töten. Ich will nur Gerechtigkeit.«
    Bauch erwiderte nichts, er nickte nur, dann blickte er aus dem Fenster. Und so, reglos und schweigend, verharrte er, bis wir im Kaukasus ankamen. Mir kam es so vor, als hätte meine Antwort ihn irgendwie berührt, aber ich konnte nicht ausmachen, ob er ihr zustimmte oder nicht.
    Als wir im Kaukasus ankamen, fuhren wir zum Haus eines alten Armeniers namens Frunsitsch. Ich kannte ihn, er war ein guter Freund meines Großvaters, 1953 war er einer der Organisatoren der bewaffneten Gefangenenrevolte in den sibirischen Gulags gewesen. Er hatte einziemlich trauriges Leben gehabt, sich aber trotzdem ein heiteres Gemüt bewahrt: Schon ein kurzes Gespräch mit ihm gab einem neue Kraft.
    Frunsitsch wartete vor seinem Haus im Auto auf uns, zusammen mit drei anderen Armeniern: junge Leute, einer von ihnen war sogar noch minderjährig. Als er uns kommen sah, ließ er den Motor an und fuhr voraus, um uns den Weg zu zeigen.
    Er leitete uns zu einem alten Militärlager an der Grenze des Viertels, wo die Felder begannen und ein bisschen Wald. Das Lager war im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen erbaut worden und besaß eine Reihe unterirdischer Kellerräume, die von verschiedenen Kriminellen für schmutzige Geschäfte benutzt wurden, wenn ein bisschen Blut vergossen werden musste.
    Dort befanden sich etwa zwanzig Armenier, Jungen und Erwachsene, alle bewaffnet mit Gewehren und Kalaschnikows. Sie standen um einen zerbeulten schwarzen Geländewagen herum, bei dem die Windschutzscheibe zertrümmert war und die rechte Tür fehlte. Im Innern des Wagens saßen fünf Männer mit Grabesmienen, völlig nackt, warum, weiß ich nicht.
    Ihre Kleidung lag auf einem Haufen vor dem Wagen, neben zwei Körpern, der eine mit einer Wunde am Hals, aus der Blut rann, der andere mit einem Loch im Kopf, das längst aufgehört hatte zu bluten.
    Ich stieg hinter Bauch aus dem Auto und ging zu unseren Jungs, die interessiert die Gesichter der fünf noch lebenden Bestien betrachteten.
    »Sie gehören uns, aber erst ist Bauch dran«, sagte Gagarin.
    Während ich noch überlegte, wie es Bauch wohl gelungen war, sie zum Reden zu bringen, sah ich, wie Pawel, von einem gewaltigen Fußtritt getroffen, zu Boden ging.
    Wie er da am Boden lag, tat er mir leid. Er erinnerte mich an einen dicken Jungen, der mal in unserem Viertel gewohnt hatte: Er hatte sich unbeholfen bewegt, weniger wegen seines Gewichts, eher wegen seines schwachen Charakters. Er war davon überzeugt, irgendwie behindert zu sein, und fiel bei jeder sich bietenden Gelegenheit hin, manchmal sogar absichtlich, um die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen, ein bisschen zu heulen und sich über seinen gebrechlichen Körper zu beklagen. Ein paar Jahre später sollte dieser elende Fleischklops feststellen, dass die Natur ihn mit einem Stück Artillerie ausgestattet hatte, das so lang und schlagkräftig wie ein Dragunow-Präzisionsgewehr war, und er ließ die Schwächen seiner Kindertage ein für allemal hinter sich. Vor allem gegenüber den Mädchen, die er so häufig wechselte wie ein penibel auf die Körperhygiene achtender Gentleman die Socken.
    Ich musste immer lachen, wenn ich an den Typen dachte, aber jetzt und hier löste dieses Bild in mir nur ein seltsames Gefühl der Wut aus. Ja, ich war wütend. Plötzlich war mir klar geworden, dass ich jetzt, obwohl wir nur einen Schritt davon entfernt waren, unsere Mission zu vollenden, nichts

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