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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Jahre, dann konnte ich mein normales Leben wiederaufnehmen. Ich durfte nur nicht noch mal in Konflikt mit dem Gesetz geraten, denn dann wäre ich auf direktem Weg auf der Pritsche eines Jugendgefängnisses, mindestens aber in einem Erziehungslager gelandet.
    Ein Jahr lang ging alles glatt, ich versuchte mich so gut wie möglich von Scherereien fernzuhalten; natürlich ging ich abends doch oft raus, weil ich sicher war, nicht entdeckt zu werden. Worauf es ankam, sagte ich mir, war, mich nicht zur falschen Zeit fern von zu Hause erwischen – und schon gar nicht in irgendwas Ernstes verwickeln zu lassen.
    Doch eines Nachmittags kamen Mel und noch drei Freunde vorbei. Wir setzten uns im Garten auf die Bank unter dem Baum und unterhielten uns über die Sache, die eine Woche zuvor mit ein paar Typen aus Tiraspol passiert war. Es ging um einen Freund von uns, der vor kurzem in unser Viertel gezogen war; der Vater hatte Scherereien mit der Polizei gehabt, und deshalb war die Familie gezwungen gewesen, aus St. Petersburg wegzuziehen. Siewaren Juden, aber aufgrund der besonderen Umstände und irgendwelcher gemeinsamer Geschäfte hatten die Sibirer ihnen Schutz gewährt.
    Dieser Freund von uns war dreizehn und trug einen alten jüdischen Namen, Lyesa. Er war ein sehr verschlossener und schwächlicher Junge: Er hatte gesundheitliche Probleme, war fast taub und trug eine gewaltige Brille, weshalb ihm die sibirische Gemeinschaft sofort mit Mitleid und Verständnis begegnete, wie allen Behinderten. Mein Vater schärfte mir dauernd ein, auf ihn achtzugeben und sofort das Messer zu ziehen, falls jemand ihn angriffe oder beleidigte. Lyesa war sehr gebildet, er hatte gute Manieren und sprach immer mit großem Ernst, was er sagte, klang überzeugend. Nicht zufällig hatten wir ihm sofort einen Beinamen verpasst, der seinem Stand angemessen war: »Bänker«.
    Lyesa war immer dabei, aber er trug nie Messer oder andere Waffen und konnte sich nicht mal prügeln. Dafür wusste er alles, er war eine wandelnde Enzyklopädie, dauernd erzählte er uns Geschichten aus Büchern: wie die Insekten leben und sich vermehren, wie sich Tierherden bilden, warum Vögel auf Wanderschaft gehen, so Sachen. Ich erinnere mich, dass er einmal das Unmögliche geschafft hat, nämlich Mel zu erklären, wie sich hermaphroditische Würmer vermehren: Es dauerte eine Weile, aber irgendwann hatte er es geschafft, und Mel lief durch die Gegend wie vom Blitz getroffen, als hätte er Jesus, Gottvater und die Madonna auf einmal gesehen:
    »Das gibt’s doch nicht! Würmer haben keine Familie! Keinen Papa, keine Mama, die machen alles selbst!« Wer es schaffte, meinem Freund Mel etwas beizubringen, und sei es noch so simpel, der musste über große menschliche und intellektuelle Qualitäten verfügen.
    Mel und die anderen, Teufel, Dschigit und Grab,erzählten mir, dass Lyesa allein auf den wöchentlichen Flohmarkt nach Tiraspol gefahren war, um Briefmarken zu tauschen, denn er war ein leidenschaftlicher Sammler. Auf der Rückfahrt im Bus hatte ihn eine Horde Arschlöcher angemacht, ihn geschlagen (zum Glück nicht allzu schlimm, nur ein paar Ohrfeigen) und ihm sein Briefmarkenalbum geklaut. Als ich das erfuhr, wäre ich fast ausgerastet. Mit den anderen Jungen aus dem Viertel verabredeten wir noch für den gleichen Abend eine Strafexpedition nach Tiraspol.
    Tiraspol ist die Hauptstadt von Transnistrien und liegt etwa 20 Kilometer von Bender entfernt am anderen Ufer des Flusses. Die Stadt war größer und ganz anders. Die Leute aus Tiraspol hielten sich vom Verbrechen fern, sie waren Arbeiter oder Soldaten, es gab dort viele Waffenfabriken, militärische Einrichtungen und diverse Behörden. Unser Verhältnis zu den Jungen aus Tiraspol war miserabel, wir nannten sie »Mamasöhnchen«, »Penner«, »Weicheier«. In Tiraspol hatten die kriminellen Gesetze von Anstand und zwischenmenschlichem Respekt keine Geltung, und die Jugendlichen benahmen sich wie die Tiere. So wunderte sich auch keiner von uns über das, was Lyesa passiert war: In Tiraspol war es normal, dass man von irgendwelchen Bastarden angemacht wurde.
    Wir besuchten Lyesa, um nachzusehen, wie es ihm ging. Wir fragten ihn, ob er Lust habe, mitzukommen und die Angreifer ausfindig zu machen. Seinem Vater erklärten wir, wir führen nach Tiraspol, um Gerechtigkeit zu üben, um diejenigen zu bestrafen, die seinen Sohn angegriffen hatten. Sein Vater erlaubte ihm mitzufahren und wünschte uns viel Glück: Er war froh,

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