Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
gar nichts damit zu tun haben ...«
    Ich hatte einen Plan, aber ich wollte ihn nicht einfach so herausposaunen, weil sein Ausgang von Lyesa abhing.
    »Hört zu, Barfüße, ich hab eine Idee, die klappt hundertprozentig, aber dazu muss einer von uns sehr mutig sein. Du, Lyesa. Du musst beweisen, dass du Eier hast.« Ich schaute ihn an, er sah genauso aus wie das, was er war: einer, der nichts mit unserer Meute gemein hatte. Mit seiner ordentlich zugeknöpften Jacke, den dicken Brillengläsern, die ihn monströs aussehen ließen, und den Haaren, die er wie ein Filmschauspieler aus den Fünfzigern trug, passte er einfach nicht hierher. Lyesa kam näher, er wollte wissen, um was es ging. »Du musst allein da hingehen, damit die Bastarde dich sehen. Dann werden sie bestimmtwas unternehmen, und daran erkennen wir sie. Wir umstellen jetzt das Gelände und verstecken uns hinter den Bäumen, damit wir jederzeit eingreifen können ... Sobald du sie erkennst, fängst du an zu schreien oder pfeifst, und wir stürzen uns auf sie wie der Blitz. Alles andere liegt dann in der Hand des Herrn ...«
    »Nicht schlecht dein Plan, Kolima, vorausgesetzt Lyesa ist dabei«, kommentierte Gagarin und sah Lyesa fragend an.
    Lyesa schob die Brille auf der Nase nach oben und sagte entschlossen:
    »Klar bin ich dabei. Ich weiß nur nicht, was ich danach machen soll, wenn’s los geht. Ich glaub nicht, dass ich mich mit denen prügeln kann, das hab ich noch nie gemacht ...«
    Ich war beeindruckt von der Würde, mit der dieser Junge die Wahrheit über sich sagte. Er hatte keinerlei Angst, er sagte nur, wie es war. Mein Respekt vor ihm wuchs immer mehr.
    »Sobald wir hinter den Bäumen hervorkommen, versteckst du dich dahinter, Teufel bleibt in deiner Nähe, falls jemand auf die Idee kommt, sich an dir zu vergreifen.« Gagarin machte Teufel ein Zeichen mit den Augen, dann deutete er mit zwei Fingern auf Lyesa. »Nicht ein Haar darf ihm gekrümmt werden!«
    Im Schutz der Dunkelheit, abseits des Hauptwegs, rückten wir ins Innere des Parks vor, erreichten die Bäume, hinter denen sich die asphaltierte Fläche mit den im Kreis aufgestellten Bänken öffnete, getaucht ins schmutziggelbe Licht von drei Laternen: das Polygon.
    Man hörte die Musik, sah die Jugendlichen auf Bänken und Mofas oder auf der Erde sitzen. Etwa fünfzig, darunter auch ein paar Mädchen. Die Atmosphäre war total entspannt.
    Wir teilten uns in sechs Gruppen auf und umstelltendas Gelände. Als es so weit war, klopfte ich Lyesa leicht auf die Schulter.
    »Los, Brüderchen, zeigen wir ihnen, dass mit den Jungs aus der Unterstadt nicht zu spaßen ist ...«
    Er nickte und machte sich auf den Weg ins feindliche Lager.
    Kaum trat Lyesa aus der Deckung, kam Bewegung in die Anwesenden. Einige erhoben sich und musterten ihn neugierig, andere zeigten auf ihn und lachten. Ein Mädchen schrie wie verrückt, von Lachkrämpfen und Schluchzern zugleich geschüttelt. Sie war offensichtlich betrunken. Ich fand ihre Stimme gleich widerlich, sie hörte sich an wie die einer besoffenen Erwachsenen, vom Rauch ruiniert, roh und nicht im geringsten weiblich:
    »He, Haar! Da ist ja der Schwuli aus dem Bus! Der will seine Briefmarken wiederhaben!«
    Das Mädchen konnte das »r« nicht richtig aussprechen, was ihrer Stimme auch noch einen komischen Anstrich gab.
    Wir waren voll konzentriert, bereit loszustürzen, sobald wir wussten, zu wem sie gesprochen hatte. Wir mussten nicht lange warten. Von einer vollbesetzten Bank neben ihr stand einer auf und legte die Gitarre weg, auf der er geklimpert hatte. Mit leichtem, theatralischem Schritt ging er auf Lyesa zu und breitete die Arme aus, als würde er einen alten Freund begrüßen.
    »Ja, wenn haben wir denn da? Du kleiner Bastard! Willst du Selbstmord machen, oder was ...?« Weiter kam er nicht, denn aus dem Dunkel stürzte sich Dschigit wie ein Tiger auf ihn, warf ihn zu Boden und trat ihm mehrmals feste ins Gesicht. Jetzt sprang auch ich hinter meinem Baum hervor, und im nächsten Augenblick waren wir alle da und hatten unsere Feinde umzingelt.
    Panik brach aus, ein paar rannten hierhin und dorthin,wollten abhauen, aber sobald sich einer von uns in den Weg stellte, machten sie kehrt. Plötzlich bildete sich im Polygon eine Gruppe von »Entschlossenen«, und da ging die Schlägerei erst richtig los.
    Ich sah Messer aufblitzen und zog meine Pika. Dschigit stellte sich neben mich, Schulter an Schulter, so rückten wir vor, stachen in alle Richtungen und

Weitere Kostenlose Bücher