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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dass Lyesa solche Freunde hatte, denn er hatte große Achtung vor der sibirischen Philosophie des Gruppenzusammenhalts.
    Wortlos nahm Lyesa seine Jacke und schloss sich unsan. Wir gingen noch mal zu mir, um einen Schlachtplan zu entwerfen.
    Gegen acht Uhr abends versammelten sich rund dreißig Jungen vor unserem Haus. Meine Mutter wusste sofort, dass wir etwas im Schilde führten:
    »Wär’s nicht besser, du machst da nicht mit? Kannst du nicht zu Hause bleiben?«
    Was hätte ich ihr antworten sollen?
    »Keine Sorge, Mama, wir drehen nur eine Runde und sind gleich wieder da ...«
    Meine arme Mutter, sie wagte es nie, sich meinen Entscheidungen zu widersetzen, und hat deshalb sehr gelitten.
    Aber wir hatten ein Ziel: In einem Park am Stadtrand von Tiraspol gab es einen Ort, wo sich alle Vollidioten der Stadt abends trafen, das »Polygon«. Dort fuhren die Jugendlichen auf den Mofas herum, grillten Fleisch, konsumierten ungestört Alkohol und Drogen bis tief in die Nacht.
    Aber obwohl sich dort immer jede Menge Volk tummelte, fuhren wir in der Gewissheit dorthin, Genugtuung zu erhalten und Chaos und Zerstörung zu säen, denn wir wussten aus Erfahrung, dass die Leute dieser Stadt, wenn’s hart auf hart kam, sich nicht zusammenschlossen: Das taten sie nur, um Ärger zu machen und sich zu amüsieren, aber wenn der Augenblick gekommen war, die Zeche zu zahlen, versuchte jeder, die eigene Haut zu retten.
    Um nicht aufzufallen, fuhren wir mit dem Linienbus, teilten uns in Fünfergruppen auf und machten uns auf den Weg in den Park.
    Mel zeigte mir einen fünfschüssigen Trommelrevolver, eine alte, kleinkalibrige Waffe, die bei mir nur »die Prähistorische« hieß.
    »Die werde ich denen heute mal zeigen!«, sagte er breitgrinsend, und man begriff gleich, dass er es gar nicht erwarten konnte, damit Unheil zu stiften.
    »Heiliger Jesus, Mel, wir ziehen doch nicht in den Krieg! Steck das Scheißding weg, ich will das hier nicht sehen ...« Die Vorstellung, mit Pistolen herumzufuchteln, gefiel mir überhaupt nicht, nach unserer Erziehung benutzt man Schusswaffen nämlich nur im Notfall. Vor allem reden die Leute schlecht über einen, wenn rauskommt, dass man sich hinter der Pistole versteckt. Von klein auf hat mein Onkel mich gelehrt, dass eine Pistole wie eine Brieftasche ist: Man zieht sie nur, wenn man sie auch benutzen will, alles andere ist Schwachsinn.
    »Aber ohne ist zu gefährlich, wer weiß, wie viel Eisen die anderen dabeihaben, die sind bestimmt gut vorbereitet ...« Mel versuchte, mich vom Sinn seines Plans zu überzeugen.
    »Ich kann mir vorstellen, wie die vorbereitet sind: alle high und bekifft und mit Löchern in der Vene ... Um Himmels willen, Mel, das sind Alkis oder Fixer, wenn die uns sehen, scheißen die sich auf ihren eigenen Schatten. Schämst du dich nicht, vor denen das Eisen rauszuholen?«
    »Na gut, ich benutze es nicht, aber ich lasse es griffbereit, und wenn die Sache eskaliert ...«
    Ich sah ihn an wie einen Geisteskranken, er kapierte einfach gar nichts.
    »Mel, ich schwöre dir, der einzige, der heute Abend die Situation eskalieren lassen kann, bist du mit deiner scheiß Pistole! Wenn ich sehe, dass du sie ziehst, sind wir geschiedene Leute«, sagte ich kategorisch.
    »In Ordnung, Kolima, reg dich nicht auf, ich werde sie nicht ziehen, wenn du es nicht willst. Aber denk dran, jeder kann tun, was er will.« Oho, mein Freund versuchte, mir unser Gesetz beizubringen.
    »Natürlich, klar, jeder kann tun, was er will – wenn er allein ist! Aber wenn er mit den anderen zusammen ist, muss er sich einreihen, also Schluss mit der Diskussion ...« Bei Mel war mir wichtig, immer das letzte Wort zu haben, ich hoffte, dass es in seinem Kopf wie ein Flummi hin und her schoss und irgendwas bewirkte.
    Im Park vereinigte sich die Gruppe wieder. Von den »Chefs«, also denen, die die Verantwortung für die Jugendlichen hatten, waren nur ich und Juri dabei, der »Gagarin« genannt wurde und drei Jahre älter war als ich. Wir mussten entscheiden, wie wir es anstellen wollten, Lyesas Angreifer zu identifizieren und dazu zu bringen, aus der Deckung zu kommen.
    »Wir schnappen uns einfach zwei und drohen, sie umzubringen, wenn die Angreifer sich nicht zeigen!«, schlug Teufel vor, der das strategische Feingefühl eines Panzers hatte: losmarschieren und alles plattwalzen, was im Weg steht.
    »O ja, und weißt du, was dann passiert? In Nullkommanichts sind alle weg, und wir haben nur die beiden bekifften Idioten, die

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