Sibirische Erziehung
könnte, er hielt mich für etwas Besonderes, in seinen Augen war ich anders als die Jungen unserer Gemeinschaft.
1992, als die moldawische Armee versuchte, Transnistrien zu erobern, verließen alle die Stadt, und wir blieben unter uns, wie eigentlich schon immer. Alle bewaffneten Kriminellen leisteten den moldawischen Soldaten Widerstand und jagten sie nach dreimonatigem Kampf davon.
Als die Gefahr der direkten Auseinandersetzung vorüber war, schickte »Mütterchen Russland« uns »Hilfe«, wie sie es nannten: die vierzehnte Armee unter dem Kommando des charismatischen Generals Lebed. Als die Russen in unsere schon seit mehreren Tagen befreite Stadt einrückten, führten sie sogleich die bei einer militärischen Besetzung üblichen Maßnahmen durch: Ausgangssperre, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Eliminierung nicht genehmer Personen. In jener Zeit spülte der Fluss oft die Leichen Erschossener ans Ufer; ihre Hände waren mit Draht hinter dem Rücken zusammengebunden, die Körper wiesen Spuren von Folter auf. Ich selbst fischte höchstpersönlich die Leichen von vier Hingerichtetenheraus, kann also mit meiner ganzen jungen Autorität bestätigen, dass Erschießungen durch russische Soldaten in Transnistrien an der Tagesordnung waren.
Die Russen versuchten, die Gunst der Stunde zu nutzen und bei uns, im Land der Kriminellen, Leute zu platzieren, die nun über uns, die wir uns bis dahin selbst regiert hatten, regieren sollten. Viele sibirische Kriminelle waren in dieser Zeit in Lebensgefahr, mein Vater zum Beispiel hat auf wundersame Weise drei Attentate überlebt und ist dem vierten zuvorgekommen, indem er Transnistrien verließ und nach Griechenland ging, wo er alte Geschäftsfreunde hatte.
Die Kriminellen der Stadt versuchten, gemeinsam gegen die russischen Soldaten zu kämpfen, aber viele hatten auch Angst und ließen sich auf eine Zusammenarbeit mit dem neuen Regime ein. Die Sibirer hingegen verweigerten jeglichen Kontakt zum Rest der Gesellschaft, so dass sie um 1998 völlig isoliert waren und mit niemandem mehr zusammenarbeiteten und niemanden mehr unterstützten. Andere Gemeinschaften schlossen Abkommen mit dem neuen Regime, das einen der eigenen Leute als Präsident und politischen Garanten präsentierte. Schon bald aber eliminierten neue Regierungseinheiten diejenigen, die diese Abkommen geschlossen hatten, und übernahmen selbst die Geschäfte.
Großvater Kusja teilte mir alles mit, was er wusste:
»Unser Gesetz sagt, dass man nicht mit den Kötern reden darf: Weißt du, warum? Nicht weil’s uns Spaß macht. Sondern weil die Köter die Hunde der Regierung sind, die Instrumente, die die Regierung gegen uns einsetzt. Mich haben sie hingerichtet, als ich dreiundzwanzig war, mein Sohn, und danach habe ich das ganze Leben in Demut gelebt, ohne etwas zu besitzen, keine Familie, keine Kinder, kein Haus: das ganze Leben im Gefängnis, um zu leidenwie die anderen und ihre Leiden zu teilen. Das ist der Grund, weshalb ich Macht habe: weil viele Leute mich kennen und wissen, dass ich nicht aus Eigeninteresse spreche, wenn ich am Tisch die Hände falte, sondern zum Wohl aller. Deshalb, mein Junge, genieße ich in unserer Welt Vertrauen. Und jetzt sag mir, aus welchem Grund sollten wir denen vertrauen, die ihr ganzes Leben damit zugebracht haben, unsere Brüder zu töten, uns einzusperren, uns zu quälen und zu behandeln, als gehörten wir nicht zur menschlichen Rasse? Wie soll man jemandem vertrauen, der von unserem Tod lebt? Die Köter sind anders als alle anderen Menschen, weil sie in sich den Wunsch tragen zu dienen, einen Herrn zu haben. Sie kennen die Freiheit nicht und haben Angst vor den freien Männern. Unser Schmerz ist ihr Brot, mein Sohn, wie soll man mit diesen Leuten gemeinsame Sache machen?«
Was Großvater Kusja erzählte, half mir dabei, die Wirklichkeit zu verstehen, keinen falschen Ideen oder illusorischen Träumen aufzusitzen. Mir war bewusst, dass ich das Sterben unserer Gesellschaft miterlebte, und deshalb versuchte ich, zu überleben inmitten dieses großen Strudels aus Seelen, menschlichen Geschichten, von dem ich mich mit jedem Tag mehr entfernte.
Jedes Mal, wenn ich zu Großvater Kusja ging, gab meine Mutter mir eine Tasche mit von dem Essen, das sie gerade zubereitet hatte. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin, im Viertel war sie berühmt für ihren Borschtsch, den mit Reis, Gemüse und Äpfeln gefüllten Wels, ihre Kaviarpastete, ihre Fischsuppe und insbesondere für ihre
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