Sibirische Erziehung
Russen ergeben, und diese hatten überall Kasernen und Polizeiposten errichtet.
Der Prozess zog die Leute in Scharen an, denn viele Sibirer hielten zu den Urki und unterstützten ihren Kampf gegen die Kommunisten.
Der Richter dieses Schauprozesses und seine Geschworenen aus »Vertretern« des Volkes, natürlich alles Kommunisten, verurteilten die drei angeklagten Urki zum Tode. Das Urteil – Tod durch Erschießen – sollte am folgenden Morgen vor den Mauern des alten Bahnhofs vollstreckt werden.
Tags darauf wimmelte es dort von Leuten. Viele hatten Ikonen dabei und die Kruzifixe unter den Hemden hervorgezogen, um ihre Abneigung gegen das kommunistische Regime zu bezeugen. Die Frauen klagten und flehten um Gnade, die Männer beteten zum Herrn, er möge seine drei Diener aufnehmen, die ungerechterweise erschossen werden sollten. Die Atmosphäre war so aufgeheizt, dass vom Polizeikommando Verstärkung geschickt wurde, die einschreiten sollte, falls die Lage bedrohlich wurde.
Schließlich wurden die Verurteilten angekarrt, in Ketten mussten sie vom Wagen steigen und sich aufstellen.Die Kommunisten führten sie vor den Richter und den Ankläger, der ihnen sämtliche Taten vorlas, deren sie vom sowjetischen Staat beschuldigt wurden. Dann verlas der Richter das Urteil und ermächtigte die Polizisten, es auf der Stelle zu vollstrecken.
Die drei sollten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, doch keiner von ihnen wollte so stehen, und so drehten sie dem Exekutionskommando das Gesicht zu. Aus der Menge heraus warfen die Leute den Verurteilten Kruzifixe zu und baten den Herrn um Gnade.
Der Kommandant gab seinen Leuten mehrere Befehle, diese legten an, zielten und schossen. Zwei Verurteilte fielen tot zu Boden, doch der Dritte, der in der Mitte, blieb stehen und sah die Leute an. Sein Hemd war blutgetränkt, er hatte acht Schusswunden, aber er fiel nicht, er stand da und sog die eiskalte Morgenluft tief ein: Kusja, ein junger sibirischer Urka.
Nach den damaligen sowjetischen Gesetzen durfte ein Todesurteil nur einmal ausgesprochen und vollstreckt werden; wenn der Verurteilte überlebte, musste er freigelassen werden. Um derartige unliebsame Zwischenfälle auszuschließen, erschossen die Kommunisten später die Verurteilten aus einem halben Meter Entfernung, direkt in den Kopf.
Die Leute waren außer sich vor Freude, Kusja war für sie zum Symbol geworden, der lebende Beweis für die Existenz Gottes, der ihre Gebete erhört und Seine Macht gezeigt hatte. Von diesem Tag an kannte jeder Sibirer Kusjas Geschichte, und er wurde von allen nur noch »der Gezeichnete« genannt.
Unter anderem dieser wundersamen Geschichte wegen war Großvater Kusja eine Autorität unter den Kriminellen. Viele ehrbare und anständige Kriminelle ausunterschiedlichen Kasten hörten auf seinen Rat, und da er weise und intelligent war und keine persönlichen Interessen verfolgte, weil sein Leben – wie er zu sagen pflegte – ausschließlich der Gemeinschaft gehörte, erfuhr er von allen Seiten Unterstützung und Freundschaft.
Er war in vielen Knästen in Russland gewesen, er hatte zahlreiche Bündnisse mit verschiedenen kriminellen Gemeinschaften ausgehandelt, Konflikte zwischen Banden geschlichtet. Dank seiner Intervention legten viele Kriminelle ihre Streitigkeiten bei und lebten fortan in Frieden, wovon nicht nur die Beteiligten etwas hatten, sondern die ganze Verbrecherschaft.
Wenn irgendwo in Russland zwei Verbrecherclans miteinander in Streit gerieten, machte er sich auf die Reise und zwang die Leute kraft seiner Autorität, miteinander zu sprechen und nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Als ich ihn einmal nach seiner Rolle als »Mann des Friedens« befragte, antwortete er, dass nur derjenige Krieg führt, der nicht den wahren Prinzipien folgt, der keine Würde besitzt. Denn es gibt nichts auf dieser Welt, das nicht so geteilt werden könnte, dass alle zufrieden sind.
»Wer zu viel will, ist verrückt – ein Mann kann nicht mehr besitzen als das, was sein Herz lieben kann. Alle wollen Geschäfte machen, wollen ihre Familien glücklich sehen und die eigenen Kinder in Wohlstand und Frieden aufziehen: Das ist recht, nur so kann man die Welt teilen, die der Herr für uns geschaffen hat.«
Großvater Kusja hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, sich um den Frieden innerhalb der Verbrechergemeinschaft zu kümmern, und deshalb genoss er die Zuneigung aller, er hatte keine Feinde. Einmal, erzählte mein Vater mir, als Großvater
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