Sibirische Erziehung
diesem Fall stellt man dem Wort Großvater noch das Wort »Heiliger« oder »Gesegneter« voran, so dass sofort klar ist, dass von einem geachteten Kriminellen die Rede ist. Auch ein alter Erzieher wird Großvater genannt, aber nie einfach nur Großvater,sondern hier wird immer noch der Vorname oder der Beiname angehängt.
Mein ganz persönlicher und heißgeliebter Erzieher war, wie vielleicht schon klar geworden ist, Großvater Kusja. Solange ich zurückdenken kann, hat mein Vater mich zu ihm gebracht. Großvater Kusja genoss großen Respekt innerhalb der Verbrechergemeinschaft und hatte sich diesen Respekt unter anderem deshalb verdient, weil er im Interesse der Gemeinschaft viel erlitten und viele Opfer gebracht hatte.
Großvater Kusja war alterslos. Die Mutter starb, als er noch klein war, der Vater wurde wenig später hingerichtet, und die Menschen, die ihn daraufhin aufnahmen, kannten sein genaues Alter nicht.
Als junger Mann gehörte Großvater Kusja einer Urkibande an, die von einem berühmten Kriminellen mit dem Beinamen »Kreuz« angeführt wurde, einem Mann von altem sibirischen Glauben, der sich erst dem Zaren widersetzt hatte und dann den Kommunisten. In Sibirien, erklärte mir Großvater Kusja, haben die Kriminellen niemals eine politische Macht unterstützt, sie lebten ausschließlich nach den eigenen Gesetzen und bekämpften jede Regierungsgewalt. Sibirien hat die Russen schon immer gereizt, weil das Land so reich an Bodenschätzen ist: Außer Pelztieren, die in Russland als Nationalschatz betrachtet wurden, hatte Sibirien jede Menge Gold, Diamanten und Kohle; später wurden Öl und Gas entdeckt. Alle Regierungen haben versucht, das Land nach Strich und Faden auszubeuten, natürlich ohne Rücksicht auf die Bevölkerung zu nehmen. Die Russen, so Großvater Kusja, kamen, bauten mitten im Wald ihre Städte, rissen die Erde auf und schafften die Schätze in Zügen und Schiffen fort.
Den sibirischen Kriminellen, erfahrenen Räubern,deren Ahnen über Jahrhunderte die Handelskarawanen aus China und Indien ausgeraubt hatten, fiel es nicht schwer, nun auch diese russischen Karawanen zu plündern.
In jenen Jahren war bei den sibirischen Urki eine Philosophie, eine Weltsicht verbreitet, die »Großer Pakt« genannt wurde. Es handelte sich um eine Art Universalentwurf, der den Kriminellen erlaubte, aktiv Widerstand gegen die Regierung zu leisten, indem man in einem fort Züge und sonstige Transportmittel ausraubte. Davor durfte eine Bande laut kriminellem Gesetz nicht mehr als einen Überfall in sechs Monaten verüben: So blieb die Qualität der kriminellen Aktivität hoch, denn wenn eine Gruppe nur eine Chance hat, eine Karawane auszurauben, muss sie sich gut vorbereiten, Fehler vermeiden und auf Nummer sicher gehen. Die Leute achteten darauf, die Anschläge genauestens vorzubereiten, sonst hatten sie das nächste halbe Jahr nichts zu essen. Der Große Pakt hatte diese Regel abgeschafft, den Banden war es nun gestattet, jederzeit Überfälle zu begehen, denn nun ging es nicht mehr darum, sich zu bereichern, sondern darum, die russischen Eindringlinge aus Sibirien zu verjagen. Alte Kriminelle verbanden sich mit den neuen und bildeten große Banden. Die berühmtesten waren die Banden von Engel, Tiger und Taiga.
Die Bande von Kreuz war kleiner, um die fünfzig Männer. Sie raubten die Züge und Schiffe aus, die zwischen den Diamantengruben am Fluss Lena und dem südsibirischen Altai pendelten. Eines Tages machten sie den Fehler, den schützenden Wald zu verlassen, und standen plötzlich den kommunistischen Soldaten gegenüber. Sie versuchten, Widerstand zu leisten, aber die Kommunisten waren zahlenmäßig weit überlegen: Die Urki wurden eingekreist und fielen fast alle im Kampf.
Urki ergaben sich nie, es galt als Schande, sich gefangennehmen zu lassen. Wenn sie sahen, dass die Situation ausweglos geworden war, nahmen sie voneinander Abschied, wünschten sich Glück und warfen sich ins Getümmel, bis sie getötet wurden. Die einzige Möglichkeit, zu überleben, war, wenn man aufgrund einer Verletzung gefangen genommen wurde: Das galt nicht als Schande.
In jener Schlacht wurden drei junge Urki gefangen genommen: Einer davon war Kusja, er hatte einen Schlag an den Kopf bekommen und war ohnmächtig geworden. Um den Sibirern zu demonstrieren, was denen blüht, die sich ihnen entgegenstellen, organisierten die Kommunisten aus dem Stand ein »Volksgericht« in Tagil; die Bewohner dieser Stadt hatten sich den
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