Sibirische Erziehung
Haus.
Draußen standen viele Leute, die Soldaten plünderten die Häuser, schlugen Türen und Fenster ein und trugen verschiedene Gegenstände fort, besonders die goldenen Rahmen der Ikonen. Mitten auf der Straße zündeten sie ein Feuer an und warfen Ikonen und Kruzifixe hinein. Alle standen vor ihren Häusern und wohnten der Katastrophe machtlos bei.
Ein Offizier in Begleitung eines Soldaten schritt die in einer Reihe angetretenen Menschen ab, und wenn er einen Alten sah, befahl er dem Soldaten:
›Der da, raus!‹ Daraufhin erstach der Soldat denjenigen umstandslos mit dem Bajonett. Alle, die den Marsch hätten verzögern können, wurden eliminiert.
Eine junge Frau, Mutter von drei Kindern, wurde von einer Gruppe Soldaten in ein Haus gezerrt und dortvergewaltigt. Irgendwann konnte sie fliehen, und wie sie nackt und verzweifelt schreiend davonlief, schoss einer der Soldaten ihr durchs Fenster in den Rücken: Tot sank sie in den Schnee. Der älteste Sohn rannte schreiend zu ihr; ein Soldat, der in der Nähe stand, rammte ihm den Gewehrkolben gegen den Kopf, und der Junge brach besinnungslos zusammen.
Ein Offizier brüllte zornig:
›Wer hat da geschossen? Wer war das?‹
Der Soldat, der geschossen hatte, kam mit gesenktem Kopf heraus.
›Ich, Genosse.‹
›Hast du dir das Hirn rausgesoffen? Der Befehl lautet, nur im äußersten Notfall zu schießen! Benutz das nächste Mal gefälligst das Bajonett, ich will hier keine Schüsse hören! Wenn die im Wald uns hören, werden wir den Zug nicht erreichen!‹ Er regte sich mächtig auf, und gleich danach gab er einem Unteroffizier Befehl: ›Schnell, die Häuser in Brand stecken und die Leute in einer Reihe aufstellen! Und dann Abmarsch!‹
Die Soldaten stießen uns in die Straßenmitte, wo wir eine Kolonne bildeten, dann befahlen sie uns loszugehen. Voller Hass und Angst gingen wir fort, ab und zu schauten wir uns um und sahen unsere Häuser, die in der Dunkelheit wie Pappkartons brannten.
Die ganze Nacht marschierten wir, bis wir mitten im Wald auf Gleise stießen: Ein Zug mit fensterlosen Holzwaggons wartete dort auf uns. Wir mussten einsteigen, und als wir drin waren, bemerkten wir, dass der Zug schon voller Menschen aus anderen Dörfern war. Sie erzählten, was ihnen widerfahren war, und es war ein Abklatsch unserer Geschichte. Jemand sagte, er hätte gehört, der Zug führe in eine ferne Gegend, im Süden Russlands; er würde noch eine Woche lang durch Sibirien fahren und die Menschen aus den niedergebrannten Dörfern einsammeln.
Wir bekamen Holz, mit dem wir die kleinen Öfen in den Waggons beheizten, und ein bisschen Brot und gefrorenes Wasser. Der Zug fuhr los, und nach einer schrecklichen, fast einen Monat währenden Reise kamen wir an unser Ziel, das heißt hierher, in eine Region namens Transnistrien, manche nennen sie auch Bessarabien.
Als der Zug anhielt, bemerkten wir, dass die Soldaten verschwunden waren, nur Lokführer und ein paar Eisenbahner waren zu sehen.
Hier kannten wir niemanden, alles, was wir hatten, war ein bisschen Gold und ein paar Waffen, die wir hatten mitschmuggeln können.
Wir ließen uns am Fluss nieder, denn wir waren an den Ufern der sibirischen Flüsse aufgewachsen und wussten, wie man fischt und mit Booten umgeht. Und so ist unser Viertel entstanden, die Unterstadt.«
Im heutigen Russland ist das Exil der Sibirer in Transnistrien nahezu unbekannt. Man erinnert sich noch an die kommunistische Zwangskollektivierung, als Züge voller armer Leute durchs Land fuhren, die aus Gründen, die allein die Regierung kannte, von einem Teil des Landes in einen anderen verfrachtet wurden.
Die Kommunisten, sagte Großvater Kusja, wollten unsere Gemeinschaft zerstören, indem sie die Familien der Urki nach Transnistrien umsiedelten. Doch – Ironie des Schicksals – gerade dadurch haben sie sie gerettet.
Zahlreiche junge Männer aus Transnistrien fuhren später nach Sibirien, um auf ihre Weise am Krieg gegen die Kommunisten teilzunehmen: Sie raubten Züge, Schiffe, Militärlager aus und machten den Kommunisten Schwierigkeiten, wo sie nur konnten. In regelmäßigen Abständen kehrten sie nach Transnistrien zurück, um ihre Wunden zu lecken oder Zeit mit ihren Familien undFreunden zu verbringen. Trotz allem wurde dieses Land zu einer zweiten Heimat, die mit dem Leben der sibirischen Kriminellen untrennbar verbunden ist.
Großvater Kusjas Erziehung war kein Unterricht; er redete, erzählte mir seine Geschichten und hörte sich an,
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