Sibirische Erziehung
Nachspeisen. Großvater Kusja nannte sie »Mütterchen«, was größten Respekt und Bewunderung ausdrückte. Immer wenn ich ihm etwas brachte, das meine Mutter gekocht hatte, sagte er:
»Lilja, Lilja, mein süßes Mütterchen! Wir müssen dir ununterbrochen die Hände küssen, es bleibt uns nichts anderes übrig!«
Vor Großvater Kusjas Haus stand eine alte Holzbank, auf der er oft saß und auf den Fluss schaute. Ich setzte mich neben ihn, und so saßen wir den ganzen Tag da, manchmal bis zum Abend. Er erzählte mir Begebenheiten aus seinem Leben oder die Geschichten der sibirischen Urki, die ich sehr gern mochte. Wir sangen Lieder. Er konnte sehr gut singen und kannte viele Verbrecherlieder. Ich hatte ein gutes Gedächtnis und musste ein Lied nur ein paar Mal hören, um es auswendig zu können. Großvater Kusja gefiel das, und bevor wir sangen, fragte er mich immer:
»Weißt du noch, wie das Lied geht?«
»Klar weiß ich das noch! Das ist doch mein Lieblingslied!«
»Sehr gut, Barfuß! Dann lass uns zusammen singen!« Und dann sangen wir zusammen, und oft kam ich zu spät zum Abendessen.
Ganz besonders liebte ich es, wenn Großvater Kusja mir von Sibirien erzählte: die Geschichten von den Urki, die sich gegen die Herrschaft des Zaren und der Kommunisten auflehnten. In diesen Geschichten spürte man den Faden, der meine Familie zusammenhielt und die Menschen der Gegenwart mit denen der Vergangenheit verband. Dank diesem Faden wirkte alles viel glaubhafter, wirklicher.
Großvater Kusja betonte stets die Verbindung zwischen den Gestalten in den Geschichten und den Leuten, denen wir Tag für Tag auf der Straße begegneten, damit ich begriff, dass sich die Zeiten geändert haben mochten, die Werte jedoch die gleichen geblieben waren.
Großvater Kusja war unter den ersten Sibirern, dienach Transnistrien kamen. Er erzählte von dieser Umsiedlung voller Wehmut, und man sah ihm an, dass die Erinnerung an diese Zeit düstere Empfindungen hervorrief.
»Die Soldaten kamen nachts in unser Dorf. Es waren viele, alle bewaffnet, mit Bajonettgewehren, als würden sie in den Krieg ziehen ... Ich war noch klein, erst zehn, meine Eltern waren schon lange gestorben, ich lebte bei guten Leuten, die mich aufzogen wie ihr eigenes Kind. Die Männer waren alle fort, in der Taiga, im Dorf waren nur die Alten und die Frauen mit den Kindern zurückgeblieben. Ich erinnere mich, dass sie ohne anzuklopfen und ohne sich die Stiefel auszuziehen in die Häuser eindrangen. Da war ein Mann mit Jacke und Hose aus schwarzem Leder. Ich erinnere mich an den Geruch dieses Leders, es war ekelerregend, unerträglich. Er sah uns an und fragte Pelagea, die Hausherrin:
›Wo ist dein Mann, hm, wo ist er?‹
›Er ist zum Jagen in die Taiga gegangen, ich weiß nicht, wann er zurückkehrt ...‹
›Das dachte ich mir. Also gut, zieht euch was Warmes an, nehmt nur das Notwendigste mit, kommt aus dem Haus und stellt euch mit den anderen auf.‹ Der Mann war der Kommandant, und sein ganzes Auftreten verriet, dass er wusste, dass er hier das Sagen hatte.
›Was ist denn los, warum sollen wir uns anziehen und das Haus verlassen? Es ist mitten in der Nacht, die Kinder schlafen ...‹ Pelagea war aufgeregt, ihre Lippen zitterten, während sie sprach.
Der Mann hielt einen Augenblick inne, sah sich im Zimmer um und trat zum roten Winkel, wo die Ikonen standen: Er nahm eine und schleuderte sie gegen die Wand. Die Ikone zerbrach in zwei Teile. Er nahm noch mehr Ikonen, warf sie in den Ofen und sagte:
›In zehn Minuten brennen wir das ganze Dorf nieder. Wenn ihr hierbleiben und bei lebendigem Leib verbrennen wollt, von mir aus ...‹
Pelagea hatte fünf Kinder, das kleinste war gerade vier, das Älteste dreizehn. Außerdem kümmerte sie sich um mich und Warja, ein vierzehnjähriges Mädchen, das wie ich keine Eltern mehr hatte. Sie war eine gute, mutige Frau. Ruhig erklärte sie uns Kindern, dass wir keine Angst zu haben bräuchten, alles liege in der Hand des Herrn. Sie packte uns dick ein, holte das Gold, das sie irgendwo heimlich verwahrte, und versteckte es in unseren Kleidern. Dann nahm sie ein wenig Asche aus dem Ofen und rieb damit Warjas Gesicht ein, um sie hässlich zu machen, denn sie befürchtete, die Soldaten würden sie vergewaltigen.
›Egal, was sie euch fragen, antwortet nicht, schaut ihnen nicht ins Gesicht, lasst mich reden. Es wird alles gut.‹
Sie nahm einen großen Beutel mit Brot und Trockenfleisch, dann verließen wir das
Weitere Kostenlose Bücher