Sibirische Erziehung
Kusja in einem Hochsicherheitsgefängnis saß, hatte eine Gruppe junger Krimineller aus Sankt Petersburg – Leute »neuen Zuschnitts«, die diealten Gesetze nicht respektierten – einen Waffenstillstand zwischen mehreren Gemeinschaften gebrochen, der einige Zeit vorher unter Beteiligung von Großvater Kusja geschlossen worden war. Sie hatten Leute ermordet und sich ein gutes Stück vom Kuchen gesichert; danach versuchten sie, den anderen, die die alten Regeln befolgten, zu demonstrieren, dass diese Regeln nicht mehr gültig waren und keine reale Macht dahinterstand. Um das zu beweisen, wollten sie sich an einer allseits anerkannten Autorität vergreifen, und sie wählten Großvater Kusja aus, weil er innerhalb der sibirischen Gemeinschaft die größte Macht darstellte. Sie heckten einen einfachen, sehr ehrenrührigen Plan aus und schickten ihm in das Gefängnis, wo er, inzwischen alt geworden, die letzten Tage seiner Strafe absaß, einen Brief: Sie luden ihn zu einem Treffen in Sankt Petersburg ein und kündigten an, sie würden ihn nicht mehr als aktiven Kriminellen betrachten, falls er nicht erscheine.
Eine derartige Erpressung wiegt für einen Kriminellen sehr schwer, viel schwerer als der Mord an einem Verwandten oder eine persönliche Beleidigung, weil das persönliche Prestige innerhalb der Gemeinschaft auf dem Spiel steht, weshalb die Beleidigung auch die ganze Gemeinschaft und ihre Repräsentanten trifft.
Wie dem auch sei, Großvater Kusja drohte der Gefängnisverwaltung kurzerhand mit einem Massenselbstmord und erzwang so für sich und fünf weitere Kriminelle von Rang, die in verschiedenen russischen Gefängnissen einsaßen, einen einwöchigen Hafturlaub – keiner von ihnen hätte gezögert, den Worten Taten folgen zu lassen.
Die jungen Kriminellen aus Sankt Petersburg, die sicher waren, dass keiner kommen würde, planten bereits in allen Einzelheiten, wie sie die Anhänger der alten Autoritäten zwingen wollten, ihnen die Kontrolle über ihrGebiet zu überlassen, als Großvater Kusja und die anderen fünf Häftlinge plötzlich aus heiterem Himmel in ihr Treffen platzten.
Nach dieser Begegnung hörte man nie wieder etwas von den Jungen, sie lösten sich buchstäblich in Nichts auf: Viele fühlten sich an das alte sibirische Ritual erinnert, bei dem die Körper der Feinde bis zur völligen Unkenntlichkeit kleingehackt und anschließend mit dem Waldboden vermischt werden.
Das Gesetz der sibirischen Kriminellen besagt, dass jeder aktive Kriminelle seine Ämter aufgeben und sich zurückziehen, sozusagen in Rente gehen kann. Er darf sich dann zu Angelegenheiten, die mit kriminellen Geschäften oder der Lösung von Konflikten innerhalb der Verbrechergemeinschaft zu tun haben, nicht mehr äußern. Die Gemeinschaft unterstützt ihn, indem sie ihm genug für den Lebensunterhalt gibt, und im Tausch dafür übernimmt er die Aufgabe, die Jungen zu erziehen. Er wird, wie gesagt, zum »Großvater«: ein Name, der großen Respekt ausdrückt. Wer so genannt wird, gilt in der Gemeinschaft als Weiser, der den jüngeren Kriminellen Ratschläge grundsätzlicher Natur geben kann, weshalb Verbrecherversammlungen gewöhnlich bei ihnen zu Hause einberufen werden.
Großvater Kusja hatte sich bereits Anfang der Achtziger, als ich geboren wurde, aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen – oder, wie man bei uns sagt, er hatte »zugeknotet«. Seine Pensionierung hatte zu Spannungen innerhalb der Verbrechergemeinschaft geführt: Ohne ihn, fürchteten viele, könnten die alten Waffenstillstände gebrochen werden und ein Krieg ausbrechen.
Großvater Kusja meinte, dass die Dinge sich in jedem Fall veränderten, ob mit ihm oder ohne ihn: Die Zeiten und die Menschen veränderten sich eben, erklärte er mir:
»Die Jungen wollen das schnelle Geld, sie wollen nehmen, ohne etwas zu geben, sie wollen fliegen, ohne vorher laufen gelernt zu haben. Am Schluss werden sie sich gegenseitig umbringen und mit den Kötern Frieden schließen, und wenn das passiert, dann hoffe ich für dich, mein Lieber, dass du weit weg bist, denn dann wird dieser Ort hier zum Friedhof der Anständigen und Aufrechten.«
Natürlich betrachtete ich alles, was Großvater Kusja mir sagte, als Ausdruck höchster menschlicher Intelligenz und krimineller Erfahrung.
Wir unterhielten uns über die Zukunft, wie unser Leben sein würde, wie sich die Dinge entwickeln würden. Er war sehr pessimistisch, aber er hatte nie die Befürchtung, dass ich ihn enttäuschen
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