Sibirische Erziehung
was mir dazu einfiel. Auf diese Weise habe ich viele Dinge gelernt, die mir beim Überleben geholfen haben. Seine Art, die Welt zu sehen und zu begreifen, beruhte auf Demut; über das Leben sprach er nicht von oben herab, sondern aus der Position eines Mannes, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht und versucht, so lange wie möglich dort zu bleiben.
»Die Menschen streben verzweifelt nach etwas, das sie weder festhalten noch begreifen können, und deshalb sind sie hasserfüllt und leiden ihr ganzes Leben.«
Ich mochte seine Art zu denken, weil sie leicht nachzuvollziehen war. Ich musste mich nicht in einen anderen hineinversetzen, ich musste ihm einfach nur zuhören und dabei ich selbst bleiben, um zu begreifen, dass alles, was aus seinem Mund kam, wahr war. Er besaß eine Weisheit, die aus dem Innern kam und geradezu übermenschlich wirkte – als ginge sie von etwas aus, das größer und stärker war als der Mensch.
»Schau, wie wir gemacht sind, Söhnchen ... Die Menschen werden glücklich geboren, und doch sind sie überzeugt, das Glück sei etwas, das sie im Leben erst finden müssen ... Also, was sind wir? Eine Herde Tiere ohne Instinkt sind wir, die falschen Ideen folgen und etwas suchen, das sie schon haben ...«
Einmal, als wir fischen waren, sprachen wir über das Glück, und er fragte mich:
»Schau dir die Tiere an, glaubst du, sie wissen etwas über das Glück?«
»Hm, ich glaube schon, dass Tiere manchmal glücklich oder traurig sind, nur dass sie ihre Gefühle nicht ausdrücken können ...«, antwortete ich.
Er sah mich schweigend an und sagte:
»Und weißt du, warum Gott dem Menschen ein längeres Leben geschenkt hat als den Tieren?«
»Nein, darüber habe ich nie nachgedacht ...«
»Weil die Tiere ihrem Instinkt folgen und keine Fehler machen. Der Mensch lebt nach seinem Verstand, deshalb braucht er einen Teil seines Lebens, um Fehler zu machen, einen weiteren, um sie einzusehen, und einen dritten, um zu versuchen, keine Fehler mehr zu machen.«
Ich ging oft zu Großvater Kusja, besonders wenn es mir nicht so gut ging oder ich wegen irgendwas niedergeschlagen war, weil er mich sofort verstand und es schaffte, alle schlechten Gedanken zu vertreiben.
An jenem Morgen, nach den Schlägen der Polizisten, lag mir eine solche Last auf der Seele, dass mir fast das Atmen wehtat. Wenn ich an die Geschehnisse zurückdachte, kamen mir vor Verzweiflung und Scham die Tränen. Die Fahrt im Boot mit Mel hatte mir gut getan, aber jetzt brauchte ich unbedingt Großvater Kusja und seine warmen Worte. Ich ging zu seinem Haus wie ein Schlafwandler: als würde ich vom Instinkt geleitet.
Großvater Kusja stand immer sehr früh auf, und daher sah ich ihn, als ich an das Tor zum Haus seiner Schwester kam, bei der er wohnte, schon auf dem Dach, wo er die ersten Tauben in die Luft warf. Er machte mir Zeichen, zu ihm hinaufzusteigen. Ich holte eine krumme alte Leiter, der zwei Sprossen fehlten, lehnte sie ans Dach und stieg hinauf. Großvater Kusja sah einer Taube nach, die davonflog, sie war schon ziemlich hoch. Dann schaute er zu mir nach unten, zeigte auf die schöne Taube in seiner Hand und sagte:
»Möchtest du die fliegen lassen?«.
»Kann’s ja mal versuchen ...«, antwortete ich. Ich wusste, wie man Tauben wirft, wir besaßen ja selbst welche: Mein Großvater Boris war berühmt für seine Tauben und reiste auf der Suche nach neuen Rassen durch halb Russland, um sie dann zu kreuzen und die kräftigsten auszulesen.
Großvater Kusja hatte nicht sehr viele Tauben, höchstens fünfzig, dafür waren es außergewöhnliche Exemplare: Die vielen Leute, die aus allen Teilen des Landes zu ihm kamen, brachten nämlich ihre besten Tauben als Gastgeschenk mit.
Die Taube, die Großvater Kusja in der Hand hielt, gehörte einer asiatischen Rasse an, sie kam aus Tadschikistan: eine kräftige und dazu auch schöne Taube, eine der teuersten überhaupt. Ich nahm sie und wollte sie schon hochzuwerfen, doch Großvater Kusja hielt mich zurück:
»Warte, lass sie noch ein wenig höher steigen ...«
Warten hieß, sie möglicherweise zu verlieren: Wenn die weibliche Taube zu hoch steigt, findet sie oft nicht mehr zurück zur Erde und stirbt. Sie sind es gewöhnt, mit dem Männchen zusammenzusein: Allein, ohne das Männchen, sind sie nicht in der Lage, auf die Erde zurückzukehren, sie müssen zur Landung geführt werden. Deshalb kommt es darauf an, den Täuberich im richtigen Moment hochzuwerfen: Wenn das Männchen
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