Sibirische Erziehung
materiellen Gütern und besonders dem Geld mit Verachtung: Darüber redet man nicht.Wenn doch, dann nennen sie es »Das da« oder »Dreck«, »Blumenkohl« oder »Zitronen« oder sie nennen nur die Beträge, sagen Zahlen. Die Sibirer haben kein Geld im Haus, weil es heißt, dass es der Familie Unheil bringt, das Glück zerstört und das Schicksal »erschreckt«. Man bewahrt es in der Nähe des Hauses auf, im Garten, in einem besonderen Versteck, zum Beispiel in einem Stall fürs Kleinvieh.
Deshalb wird vor einer Tätowierung auch nie ein Preis vereinbart, über Geld wird auch hier nicht gesprochen. Erst hinterher, wenn die Arbeit getan ist, fragt der Kunde den Tätowierer: »Wie viel bin ich dir schuldig?«, und der Tätowierer antwortet: »Gib mir, was recht ist.« Das gilt als die ehrbarste Antwort, und unter den sibirischen Tätowierern ist sie die gebräuchlichste.
Kriminelle in Freiheit bezahlen den Tätowierer reichlich: in Geld, Waffen, Ikonen, Autos, sogar Immobilien. Im Gefängnis ist das anders: Dort gibt sich der Tätowierer mit ein paar Zigaretten, einem Päckchen Tee oder einem Glas Marmelade, einem Feuerzeug oder einer Schachtel Streichhölzer und ab und zu auch mit ein bisschen Geld zufrieden.
Unter Tätowierern herrscht absolute Kooperation und Brüderlichkeit. In der Freiheit besuchen sie einander, tauschen Techniken und die letzten Neuigkeiten aus.
Tätowierer begehen keine Verbrechen und beteiligen sich nicht an kriminellen Geschäften. Dafür gibt es zwei Gründe: weil sie ihre ganze Zeit der Arbeit widmen und weil das Tätowieren an sich zu Zeiten der Sowjetunion als Verbrechen galt, für das man in den Knast kam.
Im Gefängnis teilen sich die Tätowierer oft die Kunden, zum Beispiel weil der eine diese Art von Bildern lieber macht und der andere jene. In der Regel nimmt der Ältere den Jüngeren unter die Fittiche, er kümmert sich einbisschen um ihn und bringt ihm bei, was er im Leben gelernt hat. Viele Tätowierungen werden von verschiedenen Tätowierern ausgeführt, weil die Kriminellen häufig das Gefängnis oder die Zelle wechseln. So kann die Arbeit, die vom einen Tätowierer begonnen wurde, von einem anderen fortgesetzt und von einem Dritten zu Ende geführt werden. Allerdings ist es Brauch, dass man dafür die Erlaubnis desjenigen einholt, der die Tätowierung begonnen hat. Was wiederum nicht so einfach geht: In der sibirischen Verbrecherkultur fragt man nie direkt, sondern benutzt eine Kommunikationsform, die die Leute zufriedenstellt und direkte Anfragen vermeidet. Wenn zum Beispiel in dem Gefängnis, in dem ein Tätowierer arbeitet, ein neuer Krimineller mit einer nicht vollendeten Tätowierung eintrifft, lässt sich der Tätowierer den Namen des Meisters geben, der die Arbeit begonnen hat. Dann schreibt er einen Brief in Verbrechersprache, der über die Geheimpost der Inhaftierten, die »Straße«, seinen Weg zum Empfänger findet. Der Brief ist betont freundlich, scheinbar nur eine Häufung von Komplimenten, aber in Wirklichkeit ist er formell, er folgt den Prinzipien der sibirischen Erziehung. Würde jemand, der nichts mit der Verbrecherwelt zu tun hat, diesen Brief lesen, würde er ihn für baren Unsinn halten.
Solche Briefe habe ich viele geschrieben, im Knast oder in Freiheit. An einen Fall erinnere ich mich besonders: Ich saß gerade meine dritte Haftstrafe ab, schon als Erwachsener, als ein sibirischer Krimineller in unsere Zelle verlegt wurde, der auf dem Rücken eine wunderschöne Tätowierung hatte, die noch auf ihre Vollendung wartete. Afanasij »Nebel«, ein berühmter alter Tätowierer, hatte sie begonnen. Ich hatte von ihm gehört, sein Leben war Legende. Es hieß, er hätte erst sehr spät mit dem Tätowieren begonnen, als er schon um die vierzig war, davor sei er eingewöhnlicher Krimineller gewesen und habe Züge ausgeraubt. Bei einer Schießerei wurde er am Kopf verletzt und blieb in der Folge taubstumm. Plötzlich begann er, Zeichnungen anzufertigen, die schön waren, geradezu perfekt, und er erlernte das Tätowieren. In seinem Tagebuch erklärte er, dass er in seinem Kopf ständig die Stimmen Gottes und der Engel hörte, die ihm ikonographische Motive aus dem sibirisch-orthodoxen Glauben eingäben. Dieses Tagebuch war in unserer Gemeinschaft berühmt, die Leute kopierten es von Hand und gaben es weiter, wie es in der Verbrechergesellschaft mit jedem geschriebenen Dokument oder Zeugnis geschah, dessen Autor als von Gott »gezeichnet« galt. Auch ich hatte es
Weitere Kostenlose Bücher