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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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als Jugendlicher gelesen, mein Meister hatte es mir gegeben, und ich hatte es in ein Heft kopiert, und während ich abschrieb, spürte ich, wie mir viele Dinge in den Kopf kamen.
    Ich hatte erst zweimal Arbeiten von ihm gesehen, und mich faszinierte, wie erlitten diese Darstellungen wirkten. Er hatte eine besondere Technik, die nicht sehr raffiniert, eher grob war, und doch gelang es ihm, Formen, Gegenstände zu erschaffen, die aufgrund ihrer Darstellung auf der Haut direkt in die Phantasie vordrangen. Sie waren einzigartig, beim Betrachten hatte man nicht den Eindruck, dass man einen Körper mit einer Tätowierung darauf sah, die Tätowierung selbst war lebendig, und darunter befand sich ein Körper. Es war beeindruckend, stärker als alles, was ich je auf menschlicher Haut gesehen hatte.
    Ich hatte Nebel schon immer kennenlernen wollen und träumte davon, einen Weg zu finden, wie er von mir und meinen Arbeiten erfahren könnte.
    Die Tätowierung, die der Neue in unserer Zelle auf seinem Rücken hatte, hieß »Die Mutter« und war sehr komplex und voller verborgener Bedeutungen. Wie alle großen Tätowierungen war Die Mutter das Zentrum einerganzen Galaxie: In ihr kreuzen, bisweilen überlagern sich die Bedeutungen der kleineren Bilder, wie in einer Spirale bewegen sie sich auf das Hauptbild zu und verschwinden genau in dem Augenblick, in dem das Lesen der Details die Aufmerksamkeit auf ein einziges Motiv richtet.
    Als der Kriminelle mich bat, die Tätowierung zu vollenden, konnte ich es nicht fassen, so groß war die Ehre, die Linien fortzuführen, die Nebel persönlich begonnen hatte. Sofort beschloss ich, Nebel einen Brief zu schreiben. Ich war sehr aufgeregt, ein Traum schien in Erfüllung zu gehen: Ich wandte mich an einen Mythos, eine lebende Legende.
    Abends schrieb ich den folgenden Brief und packte alles hinein, was ich über die Normen des Umgangs der kriminellen Tätowierer untereinander wusste:

    Lieber Bruder Afanasij Nebel,
    es schreibt dir Nicolai Kolima, mit Gottes und der Heiligen Hilfe demütiger Kolschik .
    Ich bete zu den Ikonen und hoffe, dass wir in allen Zeiten Gottes Segen genießen werden.
    In dem Haus, das ich, dem Herrn sei Dank, mit ehrbaren Leuten teile, ist ein ehrbarer Vagabund, ein Waise, der Bruder Z..., eingekehrt und hat mit Gottes Hilfe hier Quartier gefunden.
    Durch Gottes Gnade hat er Die Mutter, die von deiner herrlichen, von Gott geführten Hand singt.
    Dank der Liebe unseres Erlösers Jesus Christus strahlt Die Mutter, es fehlt nicht mehr viel, um ihren Glanz zu vollenden.
    Mit brüderlicher Liebe und Zuneigung wünsche ich dir durch die Gnade unseres Allmächtigen Herrgotts Gesundheit und viele Jahre der Liebe und des Glaubens an unser herrliches sibirisches Kreuz.
    Nicolai Kolima

    Damit bat ich ihn schlicht um Erlaubnis, seine Arbeit zu Ende führen zu dürfen, bediente mich dazu aber kodifizierter Sätze, die sich zu einer Art Gedicht mit versteckten Bedeutungen fügten. Um das zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen.
    Wenn ein Krimineller einen anderen Bruder nennt, dann nicht aus Freundlichkeit, sondern um ihm zu verstehen zu geben, dass er nicht nur wie der andere auch Mitglied der Verbrechergesellschaft ist, sondern sogar sein Kollege.
    Sich sofort vorzustellen, ist sehr wichtig in der kriminellen Kommunikation: Name, Beiname und Beruf. Andernfalls haben die Worte, die vorangehen und folgen, keinerlei Bedeutung.
    Demütiger Kolschik , also demütiger Stecher, ist eine andere Bezeichnung für den Beruf des Tätowierers; das alte Wort Kolschik ist umgangssprachlich und steht immer in Begleitung eines Adjektivs wie »demütig« oder »arm«, das die Haltung dessen, der diesen Beruf ausübt, verdeutlicht: ohne Ambitionen, ohne den geringsten Hauch von Eitelkeit.
    Auf die offizielle Vorstellung folgt ein Brückensatz, der nichts mit dem eigentlichen Inhalt des Briefs zu tun hat. Er steht da aus Respekt vor einer alten Tradition: Die wichtige Information wird niemals sofort ausgesprochen, sondern erst nach einer kleinen »transparenten« Rede, in der es nicht um kriminelle Angelegenheiten geht, sondern um offensichtlich banale Dinge, Gemeinplätze. Damit soll der Gemütszustand desjenigen, der die Bitte vorbringt, beschrieben werden, denn Kriminelle dulden keine Nervosität: Selbst in den schwierigsten Situationen muss man sich unter Kontrolle haben und, wie heißt es so schön, kaltes Blut bewahren. In diesem Fall schrieb ich einen Satz, der eine Spur religiöser

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