Sibirische Erziehung
Hoffnung enthielt, die sichin Briefen oder anderen Kontaktaufnahmen zwischen Kriminellen nie schlecht macht.
Danach komme ich zur Sache.
Ich sage, dass in unserer Zelle, die wir Haus nennen, ein Krimineller eingetroffen – eingekehrt – ist und dort Quartier genommen hat: das heißt, dass er von den anderen Kriminellen, ehrbaren Leuten , akzeptiert worden ist. Der Neuankömmling hatte also einen Brief, einen Passierschein oder eine Tätowierung, die Unterschrift einer kriminellen Autorität, dabei.
Ich nenne den Neuankömmling einen ehrbaren Vagabunden , um auszudrücken, dass er ein demütiger Mensch ohne Ambitionen ist, der sich zu benehmen weiß.
Waise ist ein Wort, dass im Jargon viele Bedeutungen haben kann, angefangen mit der wörtlichen: In diesem Fall spielte ich allerdings auf die Tatsache an, dass er nicht selbst die Verlegung beantragt hat, sondern das Gefängnis, in dem er zuvor eingesessen war, auf Befehl verlassen musste. Es war wichtig, dies zu betonen, weil Kriminelle keine Leute respektieren, die aus freien Stücken verlegt werden möchten. Solche Leute werden »verrückte Pferde« genannt, weil sie sich, so heißt es, »wie verrückte Pferde gegen die Tür werfen, sobald etwas passiert«.
Danach schrieb ich, dass der Neuankömmling durch Gottes Gnade ... hat : Das bedeutet schlicht, dass er eine Tätowierung hat. Unter Kriminellen sagt man nicht: »Ich habe eine Tätowierung«, man sagt: »Ich habe mit Gottes Gnade«, und danach wird präzisiert, um welche Tätowierung konkret es sich handelt; geht es um alle Tätowierungen zusammen, sagt man »die ehrbaren Farben«, »die Tränen des Herrn«, »Seine Siegel«. In diesem Fall eben Die Mutter, denn diese Tätowierung hatte der Kriminelle auf seinem Rücken.
Die Mutter singt von deiner herrlichen Hand ist einKompliment an Nebel. Ist eine Tätowierung gut ausgeführt, singt sie von der Hand des Tätowierers.
Es folgt ein weiteres, bedeutenderes Kompliment: Nebels Hand ist von Gott geführt. Das ist nicht wörtlich zu verstehen: »Gott« steht in diesem Fall für das Gesetz der Kriminellen. Die Tätowierung ist also entsprechend den Regeln der kriminellen Tradition ausgeführt worden, auf sehr professionelle Weise.
Der Höhepunkt des Briefes jedoch ist die Stelle, wo es heißt Die Mutter erstrahlt : Das soll ausdrücken, dass die Tätowierung perfekt funktioniert, obwohl sie noch nicht vollendet ist. »Erstrahlen« bedeutet, dass man geheime Informationen in der Tätowierung untergebracht hat: Damit sagte ich also, dass nichts hinzugefügt oder verändert, sondern nur der letzte Schliff gegeben werden musste: hier eine Linie nachziehen, dort mit Schattierungen füllen und so weiter.
Der Satz Es fehlt nicht mehr viel, um ihren Glanz zu vollenden ist die indirekte Bitte um Erlaubnis, die Arbeit fortsetzen zu dürfen.
Es folgen die traditionellen Grüße und Wünsche und zum Schluss die Unterschrift. In der sibirischen Tradition wird nie der Nachname verwendet, nur Name und Beiname, weiter nichts: Die Familienzugehörigkeit gilt als Privatsache.
Als ich den Brief geschrieben hatte, war ich sehr froh, ich fühlte mich an einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich vertraute ihn den Leuten an, die sich in unserer Zelle um den Postverkehr kümmerten. Sie mussten die ganze Zeit am Fenster stehen und auf Signale warten. Die Briefe gelangten über Fäden von einer Zelle zur anderen: Waren sie an jemanden aus der jeweiligen Zelle gerichtet, wurden sie an den Empfänger ausgeliefert, andernfalls wanderten sie weiter, von Zelle zu Zelle, gegebenenfalls auchvon Gefängnis zu Gefängnis. Die Gefängnispost war sehr viel sicherer und schneller als die normale, die sowieso niemand benutzte. Innerhalb von zwei Wochen erreichten die Briefe jedes beliebige Gefängnis der Region, von einem Ende des Landes zum anderen benötigten sie weniger als einen Monat. Der Knast, in den mein Brief ging, war weit weg, daher verging viel Zeit.
Unruhig wartete ich auf die Antwort. Nach zwei Monaten und ein paar Tagen löste sich aus der Truppe der »Postler« ein junger Mann mit einem kleinen Brief in der Hand, der auf ein liniertes Heftblatt geschrieben war:
»Kolima, der ist für dich, von Afanasij Nebel.«
Ich wäre fast geplatzt, ich riss ihm den Brief aus der Hand und öffnete ihn hastig. In einer sehr groben, gequetschten Schrift stand geschrieben:
Heil dir, lieber Bruder Nicolai Kolima, und lange Jahre im Ruhm unseres Herrn!
Ich, Afanasij Nebel, dank unserem Herrn
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