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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Jesus Christus demütiger Kolschik , werde dich und alle ehrbaren Vagabunden, die auf dieser gesegneten Erde leben, in meine Gebete einschließen.
    Im Ruhm des Herrn atmet man frei, weil man Frieden und Seine Liebe genießt.
    Große Freude bereitet mir die Nachricht von Bruder Z..., der Herr segne ihn und beschere ihm viele Jahre, Kraft und Gesundheit.
    Die Mutter, die mit Hilfe des Erlösers Jesus Christus erstrahlt, wird mit Seiner Hilfe vollendet werden.
    Eine brüderliche und liebevolle Umarmung, Christus sei mit dir und deiner Familie, mögen Er und alle Heiligen deine gesegnete Hand beschützen.
    Afanasij Nebel

    Jede Stunde öffnete ich diesen Brief, las und las ihn immer wieder durch, als suchte ich etwas Verstecktes zwischen den Zeilen.
    Ich war unglaublich stolz auf die Tatsache, dass er mir mit so viel Respekt und Zuneigung geantwortet hatte, als würden wir uns ein Leben lang kennen, als wären wir Freunde.
    Viele in der Zelle wussten ganz genau, wer Nebel war, daher vergrößerte es meine Autorität, als sich herumsprach, ich hätte einen Brief von ihm erhalten.
    Vier Monate brauchte ich, um Nebels Tätowierung zu vollenden. Eines Tages sah in der Krankenstation zufällig ein alter Tätowierer meine Arbeit. Er hieß Onkel Kesja und gehörte zur Tschornaja mast. Ab und zu ließ er sich aus dem Hochsicherheitstrakt in die Krankenstation verlegen, um sich Arzneien spritzen zu lassen, die ihn am Leben hielten.
    Onkel Kesja nutzte seine Macht und schickte mir ein Paket mit einer Packung Tee, Zigaretten, Zucker und einem Glas Honig in die Zelle. Im beiliegenden Brief machte er mir unzählige Komplimente und sagte, er sei froh, eine Arbeit von einem Jungen zu sehen, der noch mit Stäbchen und traditionellen Techniken arbeitete anstatt mit diesen elektrischen Maschinen, die er als »Auswurf Satans« bezeichnete.
    Neugierig und angezogen von dem Respekt, den der Alte mir entgegenbrachte, baten mich von da an viele meiner Mithäftlinge, ich sollte sie mit den alten sibirischen Techniken tätowieren, sogar welche aus anderen Kasten, die mit unserer Tradition nichts im Sinn hatten. Es war schön zu sehen, wie Leute, die ich bis dahin als Andersartige eingeschätzt und von denen ich gedacht hatte, man könnte nur geschäftlich mit ihnen zu tun haben, es über sich brachten, mich anzusprechen: Sie wollten mehrwissen, fragten detailliert nach der sibirischen Geschichte und dem System der Tätowierungen; es bildete sich eine Art Brücke, eine Verbindung, die einzig auf der Neugier auf eine andere Kultur gründete, ohne banale kriminelle Geschäftsinteressen.
    In jenen Tagen erzählte ich die Geschichten, die ich als Kind von meinem Großvater und anderen alten Leuten gehört hatte. Viele meiner Zellengenossen waren einfache Leute, die wegen gewöhnlicher Verbrechen ins Gefängnis gekommen waren, ohne eine kriminelle Philosophie dahinter. Einer von ihnen, ein großer und kräftiger junger Mann namens Schura, saß fünf Jahre ab, weil er einen anderen unter ungeklärten Umständen getötet hatte. Er sprach nicht gern darüber, aber es war klar, dass es um Eifersucht ging: Letztendlich steckte hinter allem eine Geschichte von Liebe und Verrat. Weil er ein Schrank von einem Kerl war, rivalisierten die verschiedenen Verbrechergruppen um ihn: Im Gefängnis versuchen die Autoritäten der Kasten oder Familien immer, sich mit den Starken und Intelligenten zu verbünden, um über die anderen zu herrschen. Aber er blieb für sich, er schloss sich niemandem an und fristete sein trauriges Dasein wie ein Eremit. Ab und zu lud ihn einer aus der sibirischen Familie zu Tee oder Tschifir ein, und er kam erfreut mit, weil wir – wie er sagte – die einzigen waren, die ihn nicht zum Kartenspiel verleiten wollten, um ihn dann auszunehmen und zum Morden zu zwingen. Er redete nur sehr wenig, gewöhnlich hörte er den anderen zu, wenn sie Briefe von zu Hause vorlasen, und wenn jemand sang, stimmte er manchmal mit ein.
    Nach der Geschichte mit Nebels Tätowierung und meiner plötzlichen Berühmtheit ließ er sich häufiger bei den Sibirern blicken, fast jeden Abend kam er an unsere Pritschen und fragte, ob er ein bisschen bei uns bleiben könnte.Einmal brachte er ein Foto mit und zeigte es herum: die Aufnahme eines alten Mannes mit langem Bart und Gewehr. Er trug einen sibirischen Jagdgürtel, an dem das Messer und der Beutel mit den Glücksbringern und den magischen Talismanen hingen. Auf der Rückseite des Fotos stand: »Bruder Fjodot,

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