Sibirische Erziehung
ihrem Leben ist jeder Moment ein Vergnügen, wusstet ihr das nicht?«
Aber, erwiderten wir, warum trug er dann eine Uhr, wenn er nie draufguckte, wenn ihm das Vergehen der Zeit egal war.
Er machte ein erstauntes Gesicht und betrachtete seine Uhr, als sähe er sie zum ersten Mal, dann antwortete er bescheiden:
»Aber das ist doch gar keine Uhr ... Die ist ja älter als ich, ich weiß gar nicht, ob die noch funktioniert ...«
Er hielt sie ans Ohr, lauschte eine Weile und fügte dann hinzu:
»Hm, man hört was, aber ich weiß nicht, ob es das Ticken der Zeiger ist oder das Pochen meines alten Herzens, das dahingeht ...«
Bosjas Frau war eine alte, sympathische jüdische Dame namens Elina. Sie war sehr gebildet, viele Jahre war sie Lehrerin gewesen und hatte unter anderem meinen Vater und seine Brüder unterrichtet. Wenn sie über sie sprachen, dann mit Zuneigung, und nach all den Jahren respektierten sie immer noch ihre Autorität. Damals, als mein Vater zum ersten Mal zwei Polizisten tötete, hatte sie ihn mit Ohrfeigen überhäuft, und er war vor ihr niedergekniet und hatte um Verzeihung gebeten.
Bosja hatte eine Tochter, das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe: Sie hieß Faja und war ebenfalls Lehrerin, sie unterrichtete Fremdsprachen, Englisch und Französisch. Sie war mit der Vorstellung aufgewachsen, sie sei krank, weil Bosja und Elina ihr alles verboten, was normale Kinder tun, und jedes Verbot mit den Worten begründeten: »Das darfst du nicht, weil du das und jenes hast.« Sie hatte nie geheiratet und lebte noch bei den Eltern, sie war ein ruhiger, sehr heiterer Mensch. Ihr Körper war der einer Göttin, Hüften und Kurven waren perfekt, wie gemalt, ein fabelhafter Mund, klein und mit vollen, leichtgeöffneten Lippen, große schwarze Augen, gelocktes Haar, das bis zum Hintern reichte. Aber das spektakulärste an ihr war die katzenhafte Art, mit der sie sich bewegte, jede ihrer Gesten besaß eine ganz eigene Grazie.
Ich war von ihr besessen, und jedes Mal, wenn ich sie im Laden sah, suchte ich nach einem Vorwand, um ihr nahe zu sein. Ich redete mit ihr über die Pflanzen oder sonst was, nur um ihre Nähe zu spüren.
Sie lächelte mir zu, sie unterhielt sich gern mit mir, und ich merkte, dass ich ihr sympathisch war. Erst später, mit sechzehn, hatte ich den Mut, mich ihr wirklich zu nähern, und wir redeten über Literatur. Wir sahen uns nun öfter, tauschten Bücher aus, und bald hatten wir ein Verhältnis, das wohlerzogene Menschen gewöhnlich als »intim« bezeichnen, das in unserem Viertel aber ganz anders genannt wurde: »die Laken schmutzig machen«.
Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll, nicht hier.
Hier muss die Geschichte des alten Bosja weitererzählt werden.
In seiner Jugend war der alte Bosja ein Bander gewesen: So hießen zu Beginn des Jahrhunderts die Mitglieder des jüdischen organisierten Verbrechens. Das Wort ist von »Banda« abgeleitet, das heißt Bande.
In den Zwanziger- und Dreißigerjahren waren die jüdischen Banden in Odessa mächtig und sehr gut organisiert, sie kontrollierten sämtliche illegalen Geschäfte sowie den Hafen. Ihre Mitglieder einte eine tiefe Religiosität und ein Ehrenkodex, eine Art inneres Reglement namens Koska , was im alten jüdischen Dialekt Odessas »Wort«, »Gesetz«, »Regel« bedeutet. Gegen die Koska zu verstoßen, war eine vorzügliche Methode, um Selbstmord zu begehen.
Mitte der Dreißigerjahre begann die sowjetische Regierung überall im Land das Verbrechen systematisch zu bekämpfen und schickte Spezialeinheiten nach Odessa, das als eine der am schlimmsten von der Unterwelt und der organisierten Kriminalität heimgesuchten Städte galt. Diese Spezialeinheiten entwickelten eine Podstawa genannte Kampftaktik; Podstawa bedeutet »unterschieben«. Mit Hilfe von eingeschleusten Verbindungsleuten schürten sie Konflikte innerhalb der Banden.
Donnie Brasco, der berühmte, von Johnny Depp gespielte Kinogangster, hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass seine sowjetischen Vorläufer verdeckte Agenten nicht dazu benutzten, um an Informationen zu kommen, sondern um künstlich eine Situation herbeizuführen, in der Gangster sich gegenseitig bekriegten und in industriellem Maßstab massakrierten. Nein, das hätte sich Donnie Brasco bestimmt nicht träumen lassen.
Die Taktik zeigte Wirkung: Zahlreiche Banden und Verbrechergemeinschaften Odessas wurden eliminiert. Nur die jüdische konnte sich halten,
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