Sibirische Erziehung
flogen hin und her, jeder wollte die Schuld von sich fort- und den anderen zuschieben. In solchen Momenten, wenn keiner dem anderen mehr vertraut, sieht man die wahren Gesichter der Menschen, und es widert einen an zu sehen, wer man ist und wo.
Ich spürte meine Arme und Beine nicht mehr, ich konnte nicht mehr schwimmen, deshalb kehrte ich ans Ufer zurück und legte mich hin.
Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwie schlief ich ein.
Als ich aufwachte, war es Abend. Jemand fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Es war mein Freund Dschigit, er hielt eine Flasche Wein in der Hand.
Die anderen saßen ums Feuer und betranken sich.
Ich spürte neue Kräfte in mir und fragte Dschigit, ob sie Witalitschs Leiche gefunden hätten. Er schüttelte den Kopf.
Da ging ich zu den anderen und fragte sie, wie sie sich betrinken könnten, während die Leiche unseres Freundes noch im Wasser war.
Sie sahen mich gleichgültig an, ein paar waren schon sternhagelvoll, die meisten einfach nur müde und deprimiert.
»Hört zu«, sagte ich, »ich fahre jetzt zur Sichel und bringe da die Netze aus.«
Die Sichel war ein Ort zwanzig Kilometer stromabwärts. Er hieß so, weil der Fluss an dieser Stelle eine weite Kurve machte, die aussah wie eine Sichel. An dieser Schleife floss das Wasser langsamer und überschwemmte das Ufer, so dass der Strom fast zum Stillstand zu kommen schien.
Alles, was die Strömung mit sich riss, landete früher oder später dort. Wenn wir mit dem Netz den Fluss in der Tiefe absperrten, konnten wir vielleicht Witalitschs Leiche herausfischen.
Das einzige Problem war, dass der Fluss wegen der Überschwemmung all diesen Krempel mitführte und wir ständig das Netz leeren mussten, weil es sonst zu voll wurde und beim Einholen zu reißen drohte.
Mel, Dschigit, Teufel und der Stumme kamen mit. Wirfuhren mit meinen beiden Booten und den Netzen von mir und Mel.
Netze, mit denen Ertrunkene geborgen wurden, werden hinterher entweder gleich verbrannt oder aber verstaut und beim nächsten traurigen Anlass wieder herausgeholt.
Ich hatte ein Dutzend Netze für die unterschiedlichsten Zwecke, die besten waren die Grundnetze, die großen Belastungen standhielten und lange im Wasser bleiben konnten. Um einen besseren Fang zu erzielen, bestanden sie aus drei Schichten übereinander und waren sehr dicht.
Ich nahm das beste Grundnetz, das ich besaß, dann fuhren wir los.
Die ganze Nacht warfen wir das Netz aus, säuberten es ständig vom Müll: Alles Mögliche war da am Grund des Flusses, zahllose Tierkadaver. Aber das schlimmste waren die Äste, weil sie sich verhakten und die Maschen zerrissen, wenn man sie herauszog.
Bis zum Morgen hatten wir ständig nasse Hände, wir hatten sie kaum abgetrocknet, da wurden sie schon wieder nass, denn sobald das Netz an einem Ende gesäubert war, war es am anderen schon wieder proppenvoll, und dann eilten wir dorthin, und war es dort geleert, mussten wir schon wieder kehrtmachen.
Irgendwann kamen Gagarin und die anderen, um uns abzulösen. Wir waren stehend k.o. Wir warfen uns sofort auf die Erde, ins Gras, und schliefen augenblicklich ein.
Gegen vier Uhr nachmittags fanden Gagarin und die anderen Witalitschs Leiche.
Sie war voller Kratzer und Schnitte, der rechte Fuß war gebrochen, ein Knochen schaute hervor. Witalitsch war dunkelblau, wie alle Ertrunkenen.
Wir riefen die Leute aus unserem Viertel zu Hilfe. Siebrachten ihn nach Hause, zu seiner Mutter. Wir fuhren mit, um ihr zu erzählen, wie es passiert war. Sie war verzweifelt, sie weinte ununterbrochen und umarmte uns alle miteinander, so fest, dass es weh tat. Ich denke, sie wusste von allein, oder vielleicht hatte es ihr auch einer der Jungen aus dem Zentrum schon erzählt, wie sehr wir uns angestrengt hatten, um die Leiche ihres Sohnes zu finden.
Sie dankte uns in einem fort, ich war gerührt, als sie sagte:
»Danke, danke, dass ihr ihn nach Hause gebracht habt.«
Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, ich wusste, dass ich nicht genug getan hatte, um die Leiche ihres Sohnes zu finden.
Wir standen alle unter Schock, waren völlig durcheinander. Wir konnten uns nicht an den Gedanken gewöhnen, dass das Schicksal uns einen Menschen wie Witalitsch genommen hatte.
Und deshalb schauten wir immer, wenn wir ins Zentrum kamen, bei Witalitschs Mutter vorbei.
Tante Katja war unverheiratet: Ihr erster Lebensgefährte, Witalitschs Vater, war eingezogen und nach Afghanistan geschickt worden, wo er vermisst gemeldet wurde, als sie
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