Sibirische Erziehung
noch schwanger war.
Tante Katja führte das schon erwähnte kleine Lokal, eine Art Restaurant, und lebte inzwischen mit einem anderen Mann zusammen, einem anständigen Kriminellen, der in diverse illegale Geschäfte verwickelt war.
Jedes Mal, wenn wir sie besuchten, brachten wir Blumen mit, weil wir wussten, dass sie Blumen liebte.
Als sie einmal erwähnte, sie wünsche sich nichts so sehr wie einen Zitronenbaum, nahmen wir uns sofort vor,einen für sie zu beschaffen. Weil aber keiner von uns je einen solchen Baum gesehen hatte, wussten wir nicht, wo.
Jemand empfahl uns, es im Botanischen Garten zu versuchen, wo Pflanzen aus den warmen Ländern zu besichtigen sind. Wir forschten nach und fanden irgendwann heraus, wo der nächste Botanische Garten lag: in Bilhorod, einem ukrainischen Schwarzmeerhafen, drei Fahrstunden entfernt.
In einer straff organisierten Truppe fuhren wir los. Wir waren zu fünfzehnt, alle wollten bei der Sache mit den Zitronen dabei sein, weil alle Tante Katja mochten und nach Kräften versuchten, ihr zu helfen und eine Freude zu machen.
In Bilhorod kauften wir uns eine Eintrittskarte für den Botanischen Garten – eine einzige: Einer von uns ging rein und gleich weiter ins Klohäuschen, von wo aus er die Karte durchs Fenster dem nächsten hinausreichte und immer so weiter, bis wir alle drin waren.
Wir folgten einer Schulklasse und näherten uns unauffällig unserem Ziel. Der Baum war nicht allzu groß, etwas höher als ein Strauch, mit grünen Blättern und drei gelben Zitronen, die im Wind baumelten.
Mel meinte spontan, die Zitronen seien falsch, nur mit Kleber angeklebt, damit es gut aussah, und dass der Baum nur irgendein Baum sei. Also versuchten wir auf die Schnelle herauszufinden, ob diese verdammten Zitronen nun echt waren oder nicht. Ich beschnupperte alle drei persönlich: Sie verströmten den typischen Zitronengeruch.
Mel bekam eine Ohrfeige von Gagarin und darüber hinaus Redeverbot bis zum Ende der Operation.
Wir packten den Kübel und stiegen damit ins Obergeschoss eines Gebäudes am Rand des Gartens. Wir öffneten ein Fenster und warfen das Bäumchen so behutsam esging auf das Dach einer Autogarage. Von dort sprangen wir hinunter, packten den schweren Kübel mit dem Baum darin und rannten zum Bahnhof. Im Zug stellten wir fest, dass sich die Zitronen trotz der Stöße und Schläge nicht gelöst hatten: Wir waren mächtig froh, dass wir sie nicht verloren hatten ...
Als wir ihr unser Geschenk brachten, weinte Tante Katja – vielleicht vor Glück, vielleicht aber auch deshalb, weil sie auf dem Kübel den Stempel des Botanischen Gartens entdeckte, den wir aus Unachtsamkeit nicht unkenntlich gemacht hatten. Jedenfalls war sie so froh, dass sie uns nach der ersten Ernte alle zu Tee mit Zitrone einlud.
Deshalb beschlossen wir auch an diesem Tag, meinem dreizehnten Geburtstag, auf dem Weg ins Eisenbahnviertel bei ihr vorbeizuschauen und ihr ein paar Blumen vorbeizubringen, und machten einen Abstecher in den Laden des alten Bosja.
Die Pflanzen und Blumen für Tante Katja kauften wir immer bei ihm, wir baten ihn, uns die Namen der uns unbekannten Gewächse auf einen Zettel zu schreiben, damit wir nicht aus Versehen zweimal das gleiche kauften.
Bei jeder fünften Pflanze gab Bosja Rabatt und schenkte uns Tütchen mit alten Samen, die inzwischen völlig vertrocknet und zu nichts mehr nütze waren. Wir steckten sie trotzdem immer ein und machten einen Umweg über das Polizeirevier; wenn draußen vor der Einfahrt parkende Polizeiautos standen, warfen wir die Samen in den Tank: Die Samen waren leicht und sanken nicht sofort nach unten, und sie waren so klein, dass sie durch den Filter der Benzinpumpe passten. Wenn sie schließlich in den Vergaser gelangten, ging der Motor aus. Kurz, für die Samen, die sonst wohl weggeworfen worden wären, hatten wir noch Verwendung.
Großvater Bosja war ein ehrbarer Jude, der den Respekt der Kriminellen genoss. Niemand wusste, was er neben dem Blumenladen (in dem er kaum was verkaufte) genau tat, so ein Geheimnis machte er um seine Geschäfte. Es hieß, er hätte Verbindungen zur jüdischen Gemeinde in Amsterdam und handelte mit Diamanten. Diese Information wurde nie bestätigt, und deshalb versuchten wir ihn jedes Mal, wenn wir in seinen Laden gingen, auszuquetschen, um herauszufinden, was er wirklich machte, aber er schaffte es jedes Mal, sich herauszuwinden.
Wir sagten:
»Und, Herr Bosja, wie ist das Wetter in Amsterdam?«
Woraufhin er
Weitere Kostenlose Bücher