Sibirische Erziehung
gleichgültig antwortete:
»Woher soll ich das wissen, ich armer Jude, ich hab ja nicht mal ein Radio! Aber selbst wenn ich ein Radio hätte, würde ich keins hören, ich bin so alt, dass ich gar nichts mehr höre, ich werde langsam taub ... Ach ja, wie gern würde ich noch mal zurück in die Zeiten, als ich so jung war wie ihr, spielen, Streiche aushecken ... Apropos, was habt ihr denn in letzter Zeit so getrieben?«
Und so waren es regelmäßig wir, die wie die Deppen ihm von unseren Angelegenheiten erzählten, anstatt seine herauszukitzeln, und wir verließen seinen Laden mit dem Gefühl, dass er uns ausgequetscht hatte.
Er hatte ein echtes Talent zum Verarschen, und wir fielen immer drauf rein.
Bosjas Blumenladen war ein dunkles, enges Loch mit Holzregalen, auf denen alte Pflanzen standen, die niemand kaufen wollte. Ich vermutete, dass manche schon seit Jahren dort standen. Wenn man den Laden betrat, hatte man den Eindruck, in einen Dschungel geraten zu sein, viele Pflanzen waren so gewuchert, dass ihre Triebe sich mit denen der Nachbarpflanzen verflochten hatten und alle zusammen einen einzigen riesigen Busch bildeten.
Bosja war ein hagerer, krummer Alter, er trug eine Brille, die so dick war wie die Außenwandung eines Panzers, und die Gläser vergrößerten seine Augen ins Monströse. Er trug stets schwarze Jacke, weißes Hemd mit schwarzer Fliege, schwarze Hose mit Bügelfalten und glänzende schwarze Schuhe.
Trotz seines Alters (er war so alt, dass sogar mein Großvater Onkel zu ihm sagte) hatte er unter einer dünnen Schicht Brillantine tiefschwarze Haare, die nach Mode der dreißiger Jahre geschnitten waren und die er sorgfältig pflegte.
Die wahre Waffe des Gentleman, sagte Bosja stets, sei die Eleganz, damit könne man sich alles erlauben – rauben, töten, stehlen, lügen –, ohne je in Verdacht zu geraten.
Wenn das Glöckchen über der Ladentür klingelte, erhob er sich mit einem Geräusch, das an ein altes Räderwerk erinnerte, aus seinem Stuhl, kam hinter der Theke hervor und ging mit seinem Schritt, der mit den Jahren allerdings viel von seiner einstigen Eleganz verloren hatte und nun mehr dem Schlurfen eines tödlich getroffenen Menschen glich, dem Kunden entgegen.
Dabei breitete er die Arme aus wie Jesus Christus auf Heiligenbildchen, empfangend und mitfühlend. Es war zum Lachen, denn zu allem anderen machte er auch noch ein lächerliches Gesicht: Er lächelte, aber sein Blick war traurig, wie der eines Hundes ohne Herrchen.
Bei jedem Schritt gab er einen Klagelaut von sich, ein alter Mann, dem jede Bewegung Schmerzen bereitete.
Alles in allem machte er mich traurig: eine Mischung aus Melancholie, Nostalgie und Mitleid.
Als wir seinen Laden betraten, verließ der alte Bosja seinen Dschungel und kam, ohne zu sehen, wer da hereingekommen war, mit dem üblichen Heiligengesicht aufuns zu. Doch sobald er unsere Bastardvisagen erkannte, wechselte sein Ausdruck. Erst verschwand das Lächeln und wich einer müden Grimasse, als bekäme er nicht genug Luft, dann erstarrte sein ganzer Körper, die Beine knickten ein wenig ein, und mit einer abwehrenden Geste, als ob wir ihm etwas Unerwünschtes anbieten wollten, drehte er uns den Rücken zu und ging zurück zum Tresen, wobei er mit zittriger, leicht ironischer Stimme in seinem vom jüdischen Dialekt Odessas eingefärbten Russisch sagte:
»Schob ja tak shil, opjat prischli morotschit jajza ...«
Was so viel hieß wie:
»Was bin ich geplagt«, eine Redensart der Juden, die sie ständig benutzten, »ihr seid ja schon wieder da und geht mir auf die Eier ...«
Das war seine Art, uns willkommen zu heißen, denn im Grunde mochte er uns sehr gern.
Es machte ihm auch Spaß, uns nicht auf den Leim zu gehen. Wir versuchten es jedes Mal wieder, doch Bosjas Weisheit und seine jüdische Schlauheit, die in seinem Fall mit Bescheidenheit und Lebenserfahrung gepaart war, sorgten dafür, dass jedes Mal wir ihm in die Falle tappten, und manchmal begriffen wir es erst hinterher, wenn wir schon wieder draußen waren. In zwischenmenschlichen Dingen war er ein Genie, ein echtes Genie.
Da er sich immer beklagte, er sei blind und taub, provozierten wir ihn, indem wir ihn nach der Uhrzeit fragten und hofften, er würde unwillkürlich auf seine Armbanduhr schauen. Aber er zuckte nicht mit der Wimper und antwortete nur:
»Woher soll ich denn wissen, wie viel Uhr es ist, wo ich doch ein glücklicher Mensch bin? Glückliche Menschen zählen die Stunden nicht, in
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