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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dickes Leder wurde rissig und ging irgendwann kaputt.
    Es gab viele Tricks, um die ballistischen Eigenschaften einer Schleuder zu verbessern, aber das Wesentliche war natürlich ein brauchbares Gerät. Wenn möglich, machte ich die Schleuder vor dem Schießen nass, dadurch wurdesie weicher, und ich wusste, dass ich bis zum Anschlag spannen konnte, ohne dass sie brach. Später fettete ich auch die Bänder der Schleuder ein: Das beseitigte die leichten Flatterbewegungen trockener Materialien, die sich auf die Flugbahn auswirken konnten, und steigerte die Präzision.
    Ich war es auch, der einen Weg fand, wie wir mit Hilfe unserer Schleudern die Streifenwagen im Hof der Polizeiwache in Brand stecken konnten. Der Hof war von einer ziemlich hohen Mauer umgeben. Wenn man etwas hineinwerfen wollte, musste man nahe rangehen und wurde eingesackt, sobald man sich blicken ließ. Molotowcocktails waren zu schwer, sie zerschellten jedes Mal an der Mauer, wir schafften nicht mal die halbe Höhe. Dann sahen wir uns gedemütigt an und bedauerten, dass all die Mühe, mit der wir die Flaschen präpariert hatten, in einem einzigen Augenblick an dieser grauen Mauer in Flammen aufging. Wir begannen das Vertrauen in uns zu verlieren, bis ich eines Tages im Haus meines Onkels in dem Schränkchen mit den Schnapsflaschen stöberte und darin auf eine Menge kleiner Flaschen mit diversen Schnäpsen stieß, Fläschchen für Zwergsäufer sozusagen. Ich leerte sie aus, mein Onkel war ja im Knast, aber da ich sie einer sinnvollen Verwendung zuführte, hätte er mich sowieso nicht ausgeschimpft, und bastelte einen Miniatur-Molotowcocktail. Dann baute ich eine geeignete Schleuder, die ein bisschen stabiler war als sonst, und nach ein paar Schießübungen, die sie mit Bravour bestand, bereitete ich eine Kiste mit Mini-Cocktails (die wir später »Mignons« nannten) und ein Dutzend Spezialschleudern vor.
    Wir gingen in die alte verlassene Druckerei in der Nähe der Polizeiwache: Von dort hatten wir eine prima Aussicht auf unsere Ziele. Wir nahmen unsere Positionen ein und feuerten wie eine Batterie Kriegskanonen die erste Salveab. Wir schossen zu zehnt, einer spannte die Schleuder mit dem Fläschchen, und von hinten zündete ein anderer mit zwei Feuerzeugen gleichzeitig dieses Fläschchen und das des Nebenmanns an. Die Fläschchen sorgten für ein prächtiges Schauspiel, ich glaubte sie wie Kugeln pfeifen zu hören: Als sie über die Mauer der Wache flogen und ich die kleinen Explosionen hörte, gefolgt von den Schreien der Köter und ersten Rauchschwaden, die sich wie phantastische Drachen in die Luft erhoben, kamen mir die Tränen, so glücklich war ich.
    Unser Standort war ideal: Bevor unsere Opfer begriffen, was los war, hatten wir unser ganzes Arsenal geleert und radelten seelenruhig nach Hause.
    In der Stadt wurde über nichts anderes gesprochen: »Die Polizeiwache ist überfallen worden«, sagte einer. »Von wem?«, fragte ein anderer. »Offenbar von einer Bande Unbekannter«, antwortete ein Dritter. Und wir kamen uns vor wie Helden, jedes Mal, wenn ich jemanden über diese Geschichte reden hörte, hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht geschrien: »Das waren wir, wir!!!«
    Ich war stolz, keine Frage, ich fand mich einfach genial, und eine Zeitlang führte ich mich auf wie ein General mit Armee.
    Den Hof der Polizeiwache setzten wir noch ein paar Mal in Brand, aber irgendwann überdachten die Polizisten ihn mit einem Eisengitter, und unsere Cocktails kamen nicht mehr durch: Viele prallten von dem Gitter ab und fielen, Plof! , auf der äußeren Seite der Mauer zu Boden, sie explodierten nicht mal. Es war nicht mehr sonderlich interessant.
    Eine Weile suchten wir nach etwas Neuem, aber dann wurden wir unversehens älter, und der Vorschlag kam auf, mit unseren Pistolen auf die Polizisten zu schießen. Kein schlechter Vorschlag, aber nicht so gut wie mit denMini-Molotowcocktails die Wache in Brand zu setzen, das hatte so was Mittelalterliches an sich und gab uns das Gefühl, wir wären edle Ritter, die gegen Drachen kämpften.

    Während wir mit unserer prächtigen Pflanze im Arm zum Lokal von Tante Katja gingen, kamen wir über die Brücke der Toten: damals nichts weiter als ein Stück Straße, deren Asphaltdecke alte Steine unterbrachen, aber einst tatsächlich mal eine Brücke. Nach ihrer Zerstörung war sie erst mit Erde bedeckt und dann asphaltiert worden, doch aus unerfindlichen Gründen durchstießen die Steine immer wieder den Asphalt. Es war

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