Sibirische Erziehung
weil es unter den Polizisten keine Juden gab und keiner dort die jüdische Kultur, Sprache und Tradition ausreichend beherrschte, um als einer von ihnen durchzugehen.
Als dann die Macht der Polizei in Odessa wuchs und auch den Juden gefährlich zu werden begann, bündelten sie ihre Kräfte und organisierten sich in zwei großen Banden mit mehreren tausend Mitgliedern. Die berühmtere der beiden wurde von dem legendären Kriminellen Benja Krik, genannt »der König«, angeführt und widmete sich hauptsächlich Raubüberfällen und Diebstählen; die andere, an deren Spitze ein alter Krimineller namens Buba Basitsch, genannt »der Schieler«, stand, beschäftigte sich ausschließlich mit illegalen Finanzgeschäften.
Diese beiden Organisationen funktionierten so gut,dass die Polizei nichts gegen sie ausrichten konnte: Schon bald waren sie die Herren von Odessa, und die jüdische Gemeinde dort wurde zu einer der mächtigsten in der südlichen Sowjetunion und besonders in der Ukraine.
Als Odessa im Oktober 1941 von deutschen und rumänischen Truppen besetzt wurde, wurden die meisten Juden deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet.
Die Kriminellen aber bildeten Partisanengruppen und versteckten sich in den unterirdischen Tunneln, die die ganze Stadt durchzogen und am Meer endeten. Ihre Sabotageakte verübten sie nachts: Sie sprengten Eisenbahnstrecken, ließen Züge mit Waffen und Vorräten entgleisen, verbrannten und versenkten Schiffe, überfielen und töteten hohe deutsche Offiziere, oft während sie in Gesellschaft von Prostituierten waren, die den Partisanen nützliche Spitzeldienste leisteten.
Auch Bosja war dort, in den unterirdischen Gängen.
Manchmal, wenn wir bei ihm im Laden vorbeischauten, erzählte Bosja uns vom Widerstand in Odessa. Über Jahre lebten sie in den Tunneln unter der Stadt, ohne je das Tageslicht zu sehen. Die Deutschen – erzählte er – sprengten die Tunnel regelmäßig in die Luft, um zu verhindern, dass die Partisanen Sabotageakte verüben konnten, aber die klopften sich nur jedes Mal wieder den Staub von den Schultern und gruben neue Stollen.
Seine jüdische Frau hatte er dort in der Unterwelt kennengelernt, ihre Familie war von Partisanen befreit worden: Sie hatten sich ineinander verliebt und dort, unter der Erde, geheiratet. Ich weiß nicht, ob es ernst gemeint war, aber Bosja sagte, als sie schließlich die Tunnel verließen, hätten sie vergessen gehabt, wie das Sonnenlicht aussah, und seine junge Frau hätte sein Gesicht gemustert und gesagt:
»Ich hab gar nicht gemerkt, dass du so eine lange Nase hast.«
Sie wünschten sich ein Kind, doch viele Jahre wollte es damit nicht klappen, und sie litten sehr darunter. Sie hatten alle Behandlungen ausprobiert, aber vergeblich. Eines Tages gingen sie zu einer alten Zigeunerin, die mit einer blinden Enkelin zusammenlebte. Es hieß, diese Zigeunerin könne durch ihre Zauberkräfte und altüberlieferte Verfahren Krankheiten heilen, sie sei eine Art Hexe, aber sehr erfolgreich. Die Zigeunerin sagte, weder er noch seine Frau seien krank, sie litten nur unter den schlimmen Erinnerungen. Sie riet ihnen, aus Odessa fortzugehen und sich woanders niederzulassen, an einem Ort, wo nichts sie an die Vergangenheit erinnere.
Lange nahmen sie den Rat der Zigeunerin nicht ernst, es fiel ihnen schwer, die Gemeinde zu verlassen. Erst Ende der sechziger Jahre beschlossen sie, aus Odessa fortzugehen und sich in Bender niederzulassen, in unserer Stadt, wo Bosja seinen kleinen Blumenladen eröffnete und sich den geheimnisvollen Geschäften widmete, über die niemand was Genaues wusste, die ihn aber bald zum reichen Mann machten.
In dem Alter, in dem man gewöhnlich Großvater beziehungsweise Großmutter wird, bekamen Bosja und seine Frau ihre Tochter Faja.
Die drei bildeten eine schöne Familie und, wie Großvater Kusja öfters sagte, sie waren »Leute, die wissen, wie man glücklich lebt«.
Um nun auf uns zurückzukommen: Mel und ich gingen also an diesem kalten Februarmorgen bei Bosja vorbei, um eine Pflanze zu kaufen, und wie immer empfing er uns mit netten Worten:
»O je, habt ihr bei der Kälte nichts anderes zu tun?«
Besser, ich übernahm das Reden, denn ein Gespräch zwischen Mel und dem alten Bosja wäre eine ziemlich verwickelte Sache geworden.
»Wir sind wegen Tante Katja hier. Geschäftlich, wenn Sie wissen, was ich meine?«
Bosja sah mich über die Brillenränder hinweg an und sagte:
»Gott sei Dank, es gibt noch Leute, die
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