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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Geschäfte machen. Ich sitze schon seit einer Ewigkeit zwischen diesen vier Wänden und habe nicht eins zustande gebracht!«
    Ich gab sofort auf. Um die Wette mit ihm ironische Bemerkungen zu fabrizieren war, als würde man gegen einen Geparden laufen.
    Wie immer schob er uns beiläufig ein Tellerchen hin und bot uns von seinen widerlichen steinharten Bonbons an, auch das gehörte zum rituellen Auf-den-Arm-Nehmen. Aber obwohl sie so schrecklich schmeckten, füllten wir uns jedes Mal die Taschen damit, und er sah lächelnd zu und ermunterte uns immer wieder:
    »Esst, Kinder, esst, aber dass euch nicht die Zähne rausfallen ...«
    Wenn seine Frau Elina ihn bei diesem grausamen Scherz erwischte, schimpfte sie mit ihm und nötigte uns, die Taschen wieder zu leeren und die Bonbons in den Müll zu werfen. Dann nahm sie uns mit in die Wohnung und bot uns Tee und Kekse mit Buttercremefüllung an, die besten der Welt.
    Ein paar Monate zuvor hatte ich Bosja verraten, was wir mit seinen Bonbons anstellten, und er hatte sehr erstaunt getan, er hätte all die Jahre gedacht, wir hätten sie gegessen. »Wir benutzen sie als Steine«, erzählte ich ihm, »als Munition für unsere Schleudern.« Und um auf die Scheiben der Polizeiwache zu schießen, um genau zu sein. Sie waren tödlich, vor allem die mit Himbeergeschmack.Einmal hatte ich aus Spaß auf Mels Knie geschossen: Es schwoll dick an, und sechs Monate lang musste ihm mit einer Spritze das Wasser abgesaugt werden.
    Mel und ich nahmen schweigend unsere Bonbons in Empfang und suchten für Tante Katja eine kleine Pflanze aus.
    Aber ich kann unmöglich unsere Schleudern erwähnen, ohne näher auf dieses Thema einzugehen.

    Seine Schleuder baute sich jeder von uns von Anfang bis Ende selbst. Deshalb unterschieden sie sich voneinander und waren in gewisser Weise ein Spiegelbild der Persönlichkeit ihres Besitzers. Das Gestell musste aus Holz sein, andere Materialien waren tabu. Als Luxus galt ein dünnes Gestell aus weichem, jedoch widerstandsfähigem Holz. Jeder hütete die Bauweise seiner Schleuder wie ein Geheimnis, aber wenn einem die Schleuder eines anderen gefiel, konnte derjenige sie verkaufen oder zum Zeichen der Freundschaft verschenken.
    Wie das Messer musste man auch die Schleuder immer bei sich tragen, erst mit dreizehn, vierzehn wurde sie durch die Pistole ersetzt. Ich habe meine Schleuder allerdings noch mit mir herumgetragen, bis ich achtzehn war.
    In Sibirien hatte Großvater Tabakspfeifen hergestellt und dazu die Wurzeln einheimischer Bäume oder das Holz bestimmter Sträucher benutzt. Mit seiner Hilfe hatte ich das perfekte Holz für meine Schleudern gefunden: mein großes strategisches Geheimnis. Meine Freunde starteten viele Versuche, mich zum Reden zu bringen, aber ich blieb unbeugsam wie ein tapferer sowjetischer Partisan in den Klauen der Nazis.
    Meine Schleudern waren schlanker als die der anderen, und der Teil, wo die Gummis befestigt wurden, war sehr kurz und gerade: Dadurch wirkten die Gummis wie eineinziger Gummi, und ich konnte weiter und präziser schießen.
    Als Gummis benutzten wir meist alte Fahrradschläuche, aber das Resultat war eher bescheiden. Entschieden besser waren die Riemen aus den Erste-Hilfe-Päckchen des Militärs, mit denen die Venen abgebunden werden, damit man nicht so viel Blut verliert. Bei fachmännischer Montage ermöglichten sie eine tödliche Beschleunigung: Ein runder Stein oder eine Kaliber 14-Eisenkugel – oder auch ein Bonbon von Großvater Bosja – konnten auf hundert Meter ein Fenster durchschlagen und in dem dahinterliegenden Zimmer Gegenstände zertrümmern. Das tödlichste Gummi von allen aber war meine Entdeckung: Ich gewann es aus Gasmasken des sowjetischen Militärs.
    Auch die Art, wie das Gummi angebracht wurde, war individuell. Ich bevorzugte eine etwas komplizierte, dafür sichere Befestigung: eine dünne Schnur, die zigmal um das Gummi gewickelt und mit einem einfachen Fischerknoten gesichert wurde. Sicherheitshalber strich ich ein bisschen Brei aus zerkautem Brot darüber, was eine Substanz ergab, die wie Klebstoff wirkte, ohne den Faden auszutrocknen. Meine Gummis rutschten nie ab, weshalb mir das Gummi auch nie gegen die Nase oder ins Auge geschnellt ist und mir die damit verbundenen höllischen Schmerzen erspart geblieben sind.
    Auf halber Strecke des Gummis wurde das Stück Leder befestigt, in welches das Geschoss eingelegt wurde. Ich benutzte Leder, das nicht sehr dick, aber widerstandsfähig war, denn zu

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