Sibirische Erziehung
beeindruckend, diese großen, alten schwarzen und verformten Flecke in der rissigen Straßendecke zu sehen. Ein alter Mann aus unserem Viertel hatte mir erklärt, das ganze Geheimnis sei schlicht ein »Planungsfehler«. Aber als Kind glaubte ich lieber an eine andere Geschichte, die die seltsame Bewegung der Steine auf ein übernatürliches Phänomen zurückführte.
Im neunzehnten Jahrhundert, so erzählte man sich, hatten sich in unserer Stadt einmal die Arbeiter erhoben, weil sie es leid waren, von einem reichen Adligen ausgebeutet zu werden, dessen Ruf an den von Graf Dracula heranreichte. Anlass des Aufstands war, dass dieser Edelmann einer jungen Bäuerin Gewalt angetan hatte. Anders als viele vor ihr hatte das Mädchen nicht still gelitten, sondern die Wahrheit gesagt, auf die Gefahr hin, dass man ihr mit Verachtung begegnete und sie ihre Würde verlor. Aber die Leute verachteten sie nicht, sondern stellten sich hinter sie, Bauern und Arbeiter gingen auf die Barrikaden. Sie töteten die Wachen und stürmten das Schloss des Herrn, zerrten ihn aus dem Bett, hinaus auf die Straße, wo sie auf ihn einprügelten und -traten, bis er tot war. Den Leichnam banden sie ans Schlosstor und hinderten die Angehörigen daran, ihn abzunehmen: Er solle dort oben verfaulen, sagten sie.
Am nächsten Tag wurde die Revolte niedergeschlagen. Die Leute sagten, wenn der Leichnam vom Tor genommen und unter einem Kreuz bestattet werden würde, dann würde die ganze Familie verflucht sein. Natürlich hat niemand auf diese Worte gehört, der Herr wurde mit allen Ehren bestattet, wie ein gefallener Kriegsheld. Ein paar Monate später erkrankte seine Frau und starb. Der älteste Sohn, der schon ein junger Mann war, starb kurz nach ihr, er fiel vom Pferd. Schließlich starb auch die Tochter bei der Geburt ihres ersten Kindes, das ebenfalls nicht überlebte.
Das Schloss verwaiste und verfiel rasch: Niemand wollte mehr darin wohnen. Das Land des Edelmanns wurde von den Bauern besetzt. Über den Gräbern errichtete man eine Brücke, die deshalb »Brücke der Toten« genannt wurde.
Die Legende besagt, dass sich nachts die Familiengeister versammeln, um die Leiche des grausamen Edelmannes hervorzuzerren und wieder ans Schlosstor zu hängen, weil sie dem Fluch ein Ende setzen und in Frieden ruhen möchten. Aber es gelingt ihnen nicht, weil ja die Brücke über seinem Grab errichtet wurde. Im Verlauf einer Nacht schaffen sie lediglich, hier und da einen Stein anzuheben, der tagsüber von den Leuten, die darübergehen, wieder an seine alte Stelle gedrückt wird.
Als Kinder gingen wir dort nachts manchmal auf Gespensterjagd. Um uns Mut zu machen, nahmen wir unsere Messer und ein paar »magische« sibirische Gegenstände mit, eine getrocknete Gänsekralle etwa oder ein Grasbüschel, das wir in einer Vollmondnacht am Fluss gepflückt hatten.
Wir versteckten uns in einem kleinen Graben und warteten auf die Gespenster. Die Wartezeit füllten wir damit, uns Gruselgeschichten zu erzählen, die uns Angsteinjagen und wach halten sollten, aber bald waren wir trotzdem einer nach dem anderen eingeschlafen.
Irgendwann rief einer:
»Aufwachen, Leute, ich seh was«, und wir ließen uns alle wie tot auf den Grund des Grabens fallen.
Am Morgen konnte der, der am längsten wach geblieben war, den anderen erzählen, was er wollte.
Die anderen waren natürlich sauer:
»Idiot, wieso hast du uns nicht geweckt?«
»Wollte ich ja, aber ich konnte mich nicht mehr rühren oder den Mund aufmachen. Ich war wie gelähmt.«
Mel erzählte uns einmal, die Geister hätten ihn gepackt und seien mit ihm über die ganze Stadt geflogen. Die Vorstellung, wie Mel in Gesellschaft von hochwohlgeborenen Gespenstern aus dem vorletzten Jahrhundert dahinflog, hat mich schwer beeindruckt.
Selbstverständlich erinnerte ich Mel jedes Mal, wenn wir dort vorbeikamen, an die Geschichte mit seinem Flug. Er schaute mich mit offenem Mund an und sagte:
»Willst du mich jetzt verarschen?«
Und ich brach in Lachen aus und bewegte die Arme, als wären es Flügel, und dann konnte auch Mel sich nicht mehr beherrschen und fiel mit ein.
Nachdem wir armerudernd die Brücke der Toten überquert hatten, kamen wir endlich in der Straße an, in der Tante Katja ihr Restaurant hatte.
Sie lief zwischen den Tischen auf und ab und bediente die Stammgäste, alte Kriminelle, die allein lebten und jeden Tag zum Essen kamen. Sie waren so lange im Gefängnis gewesen, dass sie sich ans kollektive Leben der
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