Sibirische Erziehung
nach einer halben Stunde schreckliche Kopfweh bekam. Sogar das Essen dort stank nach Kreolin.
Der dritte Block beherbergte die akuten, ansteckenden Tuberkulosefälle. Er lag im Schatten, zu den Bäumen im Park hin, und hatte kleine, stets beschlagene Fenster; dieser Trakt war so feucht, dass das Wasser von der Decke tropfte. Drei Geschosse mit je fünfzig Zimmern zu je circa dreißig Personen. Zum Schlafen gab es Holzpritschen wie im Gefängnis, dünne Matratzen und Laken, die einmal im Monat gewechselt wurden, dazu grobe Kunstwolldecken. Nicht alle hatten Kissen. In diesen überfüllten Zimmern starben die Leute wie die Fliegen. Es war ekelhaft dort drinnen, viele konnten nicht mal allein auf Toilette gehen, und da niemand ihnen half, machten sie sich ständig in die Hose; viele spuckten auch beim Husten Blut, und sie spuckten ständig, direkt auf den Boden. Kein Fernseher, Radio oder andere Ablenkung. Keine Behandlung, nutzte ja eh nichts mehr. Essen schlecht und wenig, hier starben sowieso alle, da wäre Essen nur Verschwendung.
Bis zu den Kranken im dritten Block reichte der Handelder Pfleger selbstredend nicht, daher hatten sie ein trickreiches System erfunden, um an Zigaretten zu kommen. Sie benutzten Kinder von der Straße, solche wie uns. Die Kranken warfen eine schwere Schraube aus dem Fenster, an der eine doppelte Angelschnur festgemacht war. Wenn die Schraube hinter der Mauer landete, hängten die Kinder ein Päckchen mit Zigaretten an die Leine und die Kranken eins mit Geld. Wenn man nun an der Schnur zog, setzten sich die beiden Päckchen in Bewegung, das Geld zu den Kindern, die Zigaretten zu den Kranken.
Die Kinder verkauften die Zigaretten in etwa zum Marktpreis, verdienten aber trotzdem daran, weil sie sie geklaut und deshalb gar nichts dafür bezahlt hatten.
Die Kranken gierten immer nach Zigaretten, immer. Die Krankenhausverwaltung versuchte diesen Handel zu unterbinden, indem sie Angst unter den Kindern verbreitete und sie glauben machen wollte, dass sie sich anstecken und sterben könnten, wenn sie das Geld der Kranken anfassten. Aber die Kinder hatten wie immer eine Lösung gefunden: Sie fuhren mit einer Feuerzeugflamme schnell über die Geldscheine, um das tödliche Bazillus »zu killen«. Die Vorstellung, etwas Verbotenes und auch noch Gefährliches zu tun, steigerte den Reiz nur noch.
Die Krankenhauswachen hatten Anweisung einzuschreiten. Viele drückten ein Auge zu, aber ein paar Scheißkerle machten sich einen Spaß daraus, den Handel im letzten Augenblick scheitern zu lassen: Sie warteten ab, bis der Kranke die Hand ausstreckte und nach den Zigaretten griff und schnitten dann zack! die Schnur durch. Die Zigaretten fielen zu Boden, begleitet vom verzweifelten Geschrei des Kranken. Und die Wachen kriegten sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Diese Köter sollte man abstechen wie Schweine, wenn ihr mich fragt.Mittlerweile hatten wir den Park durchquert. Mel bat immer noch um Verzeihung, und ich beachtete ihn weiterhin nicht und ging, als ob ich allein wäre.
Als wir an der Mauer des dritten Blocks entlanggingen, fiel mir plötzlich eine Schraube vor die Füße. Ich blieb stehen und hob sie auf: Eine Angelschnur hing dran. Ich sah nach oben. An einem Fenster im dritten Stock stand ein Mann im mittleren Alter mit langem Bart und wirrem Haar. Er starrte mich mit aufgerissenen Augen an und tat so, als würde er rauchen, als hätte er eine Zigarette zwischen den Fingern.
Ich machte ihm Zeichen, dass es gleich losgehen könne. Dann drehte ich mich zu Mel um, der nicht begriffen hatte, warum ich stehengeblieben war, und forderte ihn auf, sämtliche Zigaretten rauszurücken, die er bei sich hatte.
Mel sah mich misstrauisch an, aber ich sagte in angewidertem Tonfall:
»Los, die Leute da haben nichts zu rauchen, du kannst dir nachher neue kaufen.«
»Aber ich hab kein Geld dabei!«
In mir stieg eine fürchterliche Wut auf, aber mit Wut erreichte man bei Mel nichts, deshalb regte ich mich wieder ab und sagte:
»Gib her, dann verzeihe ich dir und erzähle auch nichts den anderen.«
Da zog Mel anstandslos zwei Päckchen Temp aus der Tasche, sowjetische Marlboros.
Ich zeigte auf seine Jacke, wo er immer das Feuerzeug hinsteckte.
»Aber das hast du mir doch geschenkt, weißt du noch?«, sagte er im Versuch, wenigstens dieses zu retten, steckte dabei aber schon die Hand in die Tasche, um es hervorzuholen und dazuzulegen.
»Ich habe es in einem Kiosk in Tiraspol geklaut, ich klau dir ein
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