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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gefangenschaft geraten. Er hatte sich den Kopf angeschlagen und das Bewusstsein verloren und war durch Zufall am Leben geblieben, als die russischen Panzer über die am Boden liegenden Leichen fuhren. Auf die Panzer folgte die Kavallerie: Und die Kosaken hatten ihn aufgegabelt, während er mutterseelenallein wie ein Gespenst zwischen den Toten umherlief. Aus Mitleid nahmen sie ihn mit, sonst wäre er den Infanteristen in die Hände gefallen, die nach überlebendenJapanern suchten, um die Kameraden zu rächen, die in der Nacht zuvor beim Angriff der japanischen Einheiten auf die ersten russischen Divisionen gefallen waren.
    Die Kosaken übergaben ihn nicht der Armee, sondern behielten ihn fürs Erste bei sich, als Reitknecht. Er musste ihre Pferde striegeln und versorgen. Diese Altai-Kosaken aus dem südlichen Sibirien behandelten ihn gut, und mit der Zeit wurden sie Freunde.
    Borischka kam aus Iga, dem Land der Ninja und Meuchelmörder. Schon als Kind wurde er darin unterrichtet, mit Waffen und Händen zu kämpfen. Auch die Kosaken kämpften gern mit blanken Waffen und liebten den Ringkampf, und so lehrte Borischka sie die Techniken seines Landes und erlernte die ihren.
    Borischka war nicht gut auf die Japaner im allgemeinen noch auf die Samurai und den Kaiser im besonderen zu sprechen, weil diese auf Kosten des Volkes lebten, dem viel Unrecht widerfuhr, wie er sagte. Er hatte sich nur aus Verzweiflung zum Militär gemeldet, wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte. Das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, war einem anderen zur Frau gegeben worden, einem reichen und mächtigen Mann.
    Der Ataman der Kosaken, also ihr Anführer (ein großer, starker Mann, ein typischer Südsibirer) hatte ihn besonders ins Herz geschlossen. Eines Tages, erzählte Borischka, hatte er ihn aus dem Stall gerufen. Borischka ging auf den großen Platz, wo die Kosaken sich im Kreis aufgestellt hatten und ihn erwarteten.
    »Alle Japaner sind tot«, sagte der Ataman, »Japan hat seinen Krieg verloren, du kannst zurück in deine Heimat. Doch zuvor möchte ich dich um etwas bitten ...« Der Ataman machte einem jungen Kosaken ein Zeichen, und dieser brachte zwei Schwerter: Das eine gehörte Borischka, er hatte es am Gürtel getragen, als die Kosaken ihn retteten,das andere, die Schaschka , war das typische Schwert der sibirischen Kosaken; es war um einiges schwerer als die Schwerter der anderen Kosaken, weil die Sibirer es auch zum Holzhacken benutzten. Ein solches Schwert wog bis zu sieben Kilo, und wer damit umzugehen wusste, der konnte einen Feind von Kopf bis Fuß entzweihauen.
    Der Ataman nahm die beiden Schwerter und sagte vor den versammelten Kosaken zu Borischka:
    »Wir haben dich gut behandelt, und du kannst dich nicht beklagen, doch jetzt möchte ich wissen, ob du aus dem Versuch, die Sowjetunion zu erobern, gelernt hast. Sieh diese beiden Schwerter. Wenn du verstanden hast, dass es Unrecht war, gegen uns Krieg zu führen, zerschlage dein japanisches Schwert mit unserem Kosakenschwert, und du darfst bei uns bleiben und wirst ein Kosak sein. Wenn du aber denkst, euer Krieg sei gerecht gewesen, zerschlage unser Schwert mit deinem und wir lassen dich gehen, wohin du willst, Gott stehe dir bei, wir werden dir nichts tun.«
    Borischka wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte kein Kosak werden, doch er fand auch nicht, dass der Krieg gegen die Russen gut und gerecht gewesen war. Vor allem aber hasste er die Japaner.
    Daher nahm er sein Schwert in die Hand, küsste es, wie die Kosaken ihre Schwerter küssen, und steckte es an seinen Platz in den Gürtel.
    Der Ataman schaute interessiert zu und versuchte zu begreifen, was er da machte. Viele Kosaken waren sicher, Borischka würde ihr Schwert zerschlagen.
    Stattdessen nahm er die Schaschka, küsste auch diese und gab sie dem Ataman zurück.
    Beide sagten kein Wort, bis der Ataman anfing zu lachen:
    »Mensch, Borischka ... Du bist ein ganzer Kerl, Japaner!«
    »Ich bin kein Japaner, ich bin aus Iga, und auch mein Schwert ist aus Iga!«, antwortete er.
    »Gut, du bist ein wahrhaft aufrechter Mann, Borischka, vergiss nie, wer du bist, und verrate nie deine Herkunft ... Stolz musst du sein, nur so bewahrst du deine Würde!«
    Und so blieb Borischka noch lange bei den Kosaken, allerdings war ihm von jenem Tag an erlaubt, sein Schwert zu tragen.
    Als die Kosaken nach Sibirien in den Altai zurückkehrten, kam Borischka mit. Der Ataman nahm ihn in seinem Haus auf, und dort lernte Borischka seine

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