Sibirische Erziehung
aber sogar mir war klar, dass dieser Palast einmisslungener Stilmischmasch war: ein bisschen Mittelalter und ein bisschen italienische Renaissance, die mehr schlecht als recht von den Russen kopiert worden war. Es war ein rohes Bauwerk, die Dekorationen passten nicht, und außerdem war es von oben bis unten verschimmelt. An diesem widerlichen Ort, der nach meinem Empfinden nur für satanische Feste und Menschenopfer taugte, waren die Tuberkulosekranken untergebracht. Hm, Menschenopfer waren an diesem Ort ja irgendwie an der Tagesordnung ...
In Bender hieß dieses Krankenhaus Morilka , was in der Sprache der Einheimischen etwas bezeichnet, das einen ersticken lässt. Die Ärzte dort waren meist Militärärzte aus dem Strafvollzug, im Grunde also Gefängnisärzte. Sie kamen aus der ganzen Sowjetunion, zogen für ein paar Jahre mit ihren Familien nach Bender und verschwanden dann wieder; sie wurden sofort durch andere ersetzt, die ihrerseits Verbesserungen vorschlugen, kleine sinnlose Revolutionen, bevor auch sie gingen. Die armen Kranken hatten sich längst an die ständigen Verlegungen gewöhnt, von einem Stockwerk ins andere, von einem Flügel in den anderen, sie wurden genötigt, ihre letzten Tage im Chaos zu verbringen, mit lauter Unbekannten ringsum, die wie auf einem Marktplatz kamen und gingen.
Das Krankenhaus gehörte zum »geschlossenen« Typ, das heißt, es wurde wie ein Gefängnis bewacht, denn viele Patienten waren eigentlich Häftlinge. Drumherum war Stacheldraht gespannt, und die Fenster waren vergittert.
Im ganzen Gebäude herrschte Rauchverbot, aber die Krankenpfleger schmuggelten heimlich Zigaretten hinein und verkauften sie an die eingefleischten Raucher für den dreifachen Preis, kein schlechtes Geschäft.
Viele der Kranken waren Simulanten: kriminelle Autoritäten, die ihre Beziehungen genutzt und sich falsche Atteste besorgt hatten, denen zufolge sie »im Endstadium«waren. Statt in einem kalten, feuchten, stinkigen Gefängnis lebten sie nun in einem schönen Krankenhaus. Wenn sie wollten, ließen sie sich von draußen Prostituierte kommen, veranstalteten Besäufnisse mit ihren Kumpels und beriefen sogar Versammlungen von kriminellen Autoritäten auf nationaler Ebene ein. Alles war erlaubt und wurde gedeckt, solange man dafür bezahlte.
Abgesichert wurde das glückliche Dasein der Autoritäten im Krankenhaus durch eine Frau, eine fette, stets fröhliche Krankenschwester russischer Nationalität namens Tante Marusja. Sie war gesünder als unser Herr Jesus Christus, hatte rote Wangen und eine gewaltig laute Stimme. Die Kriminellen liebten sie, denn es gab nichts, was Tante Marusja nicht für sie erreichen konnte.
Das Krankenhaus bestand aus drei separierten Trakten. Der erste und schönste hatte Sonne: Er besaß große Fenster und ein beheiztes Schwimmbecken; dies war der Trakt der Todkranken, von denen jeder ein reinliches, warmes Zimmer hatte und ständig vom Personal umsorgt wurde. Dort waren die Autoritäten untergebracht: Sie taten so, als wären sie todgeweiht, dabei waren sie kerngesund und bei Kräften, spielten den ganzen Tag Karten, schauten sich amerikanische Filme auf Video an, vögelten die jungen Schwestern oder empfingen Freunde, die sie mit allem versorgten, was man für ein angenehmes, freudvolles Leben so brauchte.
Großvater Kusja verachtete diese Leute, er nannte sie Urody , was so viel bedeutet wie »Missgeburten«: Eine Schande für die moderne Verbrecherwelt seien sie, sagte er, und dass man es der Kultur aus Europa und Amerika zu verdanken habe, dass es solche Leute gab.
Im zweiten Block lagen die chronisch Kranken. Sie lagen zu sechst in einem Zimmer; kein Fernseher, kein Kühlschrank, nur Tisch und Bett. Abends Schlafen umneun, Wecken um acht Uhr morgens. Ohne Erlaubnis des zuständigen Personals durfte man das Zimmer nicht verlassen, nicht mal um aufs Klo zu gehen. Wer mal außerhalb der vorgesehenen Zeiten musste, der hatte ein altes Mobilklo zu benutzen, das jeden Abend geleert wurde. Das Essen war bescheiden, drei Mahlzeiten am Tag. In diesem Block waren diejenigen untergebracht, die wirklich krank waren, Kriminelle und andere, und dazu viele Obdachlose und Landstreicher. Die medizinische Behandlung war für alle gleich: Pillen und irgendwelche Injektionen, zwei Mal die Woche Inhalieren. Die Räume wurden von den Pflegern mit einem sehr starken Desinfektionsmittel namens Kreolin gereinigt, das auch in Tierställen zur Anwendung kommt: Es stank so sehr, dass man
Weitere Kostenlose Bücher