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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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spätere Frau Swetlana kennen, die älteste Tochter des Ataman. Sie heirateten. Aus Respekt vor ihr ließ Borischka sich im orthodoxen Glauben taufen und nannte sich fortan Boris, damit die Trauung in der Kirche stattfinden konnte. Sie bauten sich ein Haus und lebten in einem kleinen Dorf am Fluss Amur.
    Eines Tages wurde der Ataman aus heiterem Himmel von Stalins Geheimdienst verhaftet und bald darauf als Verräter erschossen. Borischka war niedergeschlagen, er glaubte, alles wäre seine Schuld, dabei hatte er gar nichts damit zu tun: In jenen Jahren gerieten zahlreiche Kosaken ins Visier der sowjetischen Führung, weil sie die kommunistischen Ideen ablehnten und ihre Sympathien seit je der Anarchie und Autonomie galten.
    Nach seinem Tod wurde der Ataman zum »Volksfeind« erklärt und seine Familie mit vielen anderen Sibirern nach Transnistrien deportiert.
    Borischka erinnerte sich noch gut an die lange Reise. Die Züge, sagte er, standen ewig auf den Gleisen, man konnte nicht hinaus, weil sie von bewaffneten Soldaten bewacht wurden. Manchmal kamen sie neben einem anderen Zug zum Stehen, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr, darin waren Menschen aus den europäischenTeilen der Sowjetunion, die nach Sibirien geschickt wurden. Aus einem Zug hörte er jemanden schreien:
    »O Gott, sie bringen uns nach Sibirien, dort ist es zu kalt, wir werden alle sterben!«
    Und aus dem anderen Zug wurde geantwortet:
    »Herr Jesus Christus, sie schicken uns nach Europa, kein Wald, nichts als kahle Hügel, wir werden verhungern!«
    Auf dieser Reise lernte Borischka sibirische Urki kennen. Er schloss sich ihnen an, weil sie die einzigen waren, die nicht verzweifelt zu sein schienen: Sie waren auf der sicheren Seite, denn in Transnistrien erwartete sie bereits eine etablierte Gemeinschaft.
    Einem von ihnen, einem alten Mann, dem alle mit Respekt begegneten, erzählte Borischka seine Geschichte, und der Alte beruhigte ihn:
    »Keine Angst, bleib bei uns: in Transnistrien leben unsere Brüder. Wenn du ein rechter Mann bist, wirst du bald ein eigenes Haus haben, und deine Kinder werden mit unseren aufwachsen, der Herr segne uns alle miteinander ...«
    Urki und Kosaken vertrugen sich seit jeher, sie passten zueinander: Beide respektierten die alten Bräuche, liebten das Vaterland und ihre Heimat und glaubten an die Unabhängigkeit von jedweder Form von Macht. Wegen ihres Freiheitswillens waren beide über Jahrhunderte von den diversen russischen Regimes verfolgt worden. Nur dass die Urki weiter gingen und eine besondere hierarchische Struktur entwickelt hatten. Die Kosaken hingegen begriffen sich als freie Armee und hatten deshalb eine paramilitärische Struktur; in Friedenszeiten beschäftigten sie sich die meiste Zeit mit Viehzucht.
    In Transnistrien fanden Borischka und seine Frau Unterschlupf bei einer Urki-Familie, genau wie der Alte versprochen hatte.
    Borischka fühlte sich gleich heimisch. Er fand, die Urki ähnelten sehr den Leuten aus seiner alten Heimat Iga. Sie hielten zusammen, waren extrem anarchisch und besaßen eine starke kriminelle Tradition.
    Bald beteiligte er sich an den Geschäften der sibirischen Kriminellen, die ihn respektierten, weil er ihr Gesetz begriff, er war ein rechter Mann, einer, auf den man sich verlassen konnte.
    Nach und nach wurde er einer von uns. Er lebte mit seiner Familie in unserem Viertel. Seine Frau, die wir alle nur noch Großmutter Swetlana nannten, schenkte ihm zwei Kinder, aus denen kleine Urki wurden.

    Jetzt, als alter Mann, nutzte Borischka seine Beziehung zum Direktor der Lebensmittellager aus, der ihn als Wachmann eingestellt hatte. Sie hatten eine Abmachung: Der Direktor machte keinen Aufstand, wenn Ware verschwand, dafür musste Borischka seinen Anteil mit ihm teilen. Borischka organisierte jeden Schlag bis ins Detail, wenn’s ums Geschäft ging, war er äußerst gründlich und gewissenhaft. Vor allem hatte er seine Gefühle vollkommen im Griff, ich habe nie erlebt, dass er den Kopf verloren hätte.
    Einmal, im Herbst, wenn bei uns für den Winter eingemacht wird, hatten sich bei uns fünf Familien aus der Nachbarschaft versammelt, um gemeinsam ans Werk zu gehen. Wie immer schnippelten die Frauen Gemüse und Hülsenfrüchte, während die Männer aufs Feuer achteten, einen großen Topf mit Wasser zum Kochen brachten und die Gläser vorbereiteten. Wir Kinder wuselten zwischen den Erwachsenen, und auch der alte Borischka war da mit seinem Sohn und den Enkeln.
    Plötzlich brach das

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