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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ist ein guter Freund, wir haben viel Mist gebaut zusammen. Zu mir und den anderen war er immer anständig, wie ein Bruder.« Ich tat alles, damit Haken wenigstens in den Augen einer der Autoritäten gut dastand, in der Hoffnung, dass Onkel Kostitsch später seinen Einfluss zu Hakens Gunsten geltend machen würde. Aber ich durfte natürlich nicht übertreiben und einfach drauflosreden, zumal mein Wort als Minderjähriger nicht besonders viel zählte.
    »Weißt du, warum er sich ehrbaren Leuten gegenüber so unehrenhaft verhalten hat?«
    Kostitsch stellte mir eine Frage, die bei uns »rauskitzeln« hieß, das heißt eine recht direkte Frage, die man nicht unbeantwortet lassen darf, auch wenn man sie eigentlich nicht beantworten kann. Ich beschloss, meine Sicht der Dinge darzulegen, unabhängig von dem, was geschehen war:
    »Haken ist ein Mann von Ehre, vor drei Jahren hat er in einer Schlägerei mit Leuten aus Parkan sechs Messerstiche abbekommen, weil er mit seinem Körper Mel und Gagarin gedeckt hat. Mel war damals noch ein Kind, er hätte sterben können. Manchmal ist es schwierig, sich mit ihm zu unterhalten, weil er ein bisschen ein Einzelgänger ist, aber er hat ein großes Herz und hat es nie an Respekt gegenüber anderen fehlen lassen. Ich weiß nicht, wie die Sache mit den Georgiern abgelaufen ist: Haken war allein, keiner war bei ihm. Vielleicht fühlt er sich deshalb verraten: Drei fremde Typen, Leute vom Kaukasus, stellen dich praktisch vor deiner Haustür, mitten in deinem Viertel ... und keiner deiner Freunde ist da, um dir zu helfen.«
    Hakens Opfer für Mel hatte ich absichtlich erwähnt, denn ich wusste, dass solche Dinge mehr als alles andere zählen. Ich hoffte, dass auch Kostitsch das so sah, im Grunde war er noch immer ein einfacher Mann – und ein großer Streithahn.
    »Du meinst also, er hätte sich richtig verhalten? Wäre es nicht besser gewesen, die Sache mit Worten zu klären?«
    Mit dieser Frage wollte er mich in die Falle locken.
    »Ich meine, es ist halt so gelaufen. Jedes Mal ist es anders, das weißt du besser als ich, Onkel. Bevor du nicht in der Situation bist, kannst du nicht wissen, wie du reagieren wirst.«
    »Wenn er im Recht war, warum wollte er dann nicht vor den anderen erscheinen, um seine Version zu erzählen? Weil er denkt, dass er im Unrecht ist, weil er nicht sicher ist, ob er sich ehrbar verhalten hat ...«
    »Ich denke, er wollte einfach nicht noch mal angegriffen werden, zum zweiten Mal. Das erste Mal vor seiner Haustür, mit Messern, das zweite Mal durch die Rechtsprechung der kriminellen Autoritäten. Er hatte das Vertrauen in die Autoritäten verloren, er fühlte sich verraten: Sie haben der Forderung der Georgier entsprochen, obwohl sie wussten, dass er es war, der mit dem Messer bedroht wurde, drei gegen einen, und dazu in seinem eigenen Viertel.«
    Endlich war es mir gelungen zu sagen, was ich dachte.
    Kostitsch sah mich einen Augenblick lang ausdruckslos an, dann lächelte er:
    »Gott sei Dank gibt es in unserer alten Stadt noch junge Kriminelle ... Denk immer dran, Kolima, es ist ein Fehler, eine Autorität werden zu wollen. So was wird man, wenn man es verdient, wenn man dazu geboren ist.«

    Die Sache mit Haken klärte sich dann drei Tage später. Die kriminellen Autoritäten entschieden, dass die Georgier mit ihrem Ansinnen die Ehre der Justiz beleidigt hatten, und erklärten sie zu »stinkenden Ziegenböcken«, womit in der kriminellen Gemeinschaft äußerste Verachtung ausgedrückt wird. Die drei verschwanden aus Transnistrien, doch bevor sie gingen, meinten sie noch eine Handgranate auf Hakens Haus schmeißen zu müssen, während dieser mit seiner alten Mutter beim Abendessen saß. Zum Glück war es nur eine Übungsgranate; sie hatte einen mit Tinte aufgemalten roten Ring und war nicht mit Sprengstoff geladen: Sie war also so gefährlich wie ein Ziegelstein. Die Georgier wussten das aber nicht, sie hatten sie in dem Glauben gekauft, sie wäre scharf.
    Auch wenn niemand starb, empfanden die Leute im Viertel diesen Akt als Angriff auf ihre Gemeinschaft. Eines Abends sagte Großvater Kusja zu mir:
    »Schau dir heute mal die Nachrichten an, vielleicht kommt ja was Spannendes.«
    Ganz am Schluss kam ein Bericht aus Moskau: Sieben vorbestrafte Männer georgischer Nationalität waren in der Wohnung des einen tot aufgefunden worden, brutal erschossen, während sie beim Abendessen saßen. Die Bilder zeigten einen umgestürzten Tisch, durchlöcherte Möbel,

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