Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
zerfetzte Körper. An der Lampe war ein handbemalter sibirischer Jagdgürtel befestigt worden, und an diesem Gürtel hing die Übungsgranate. Der Reporter kommentierte:
    »... ein brutaler Anschlag, ohne Zweifel haben hier sibirische Kriminelle eine Rechnung beglichen.«
    Ich erinnere mich, dass ich an jenem Abend, bevor ich schlafen ging, meinen Jagdgürtel aus dem Schrank holte, ihn lange betrachtete und dachte: Es ist schön, Sibirer zu sein.

    Nach der Unterhaltung mit Onkel Kostitsch weckte ich Mel mit zwei Klapsen. Wir bedankten uns bei Tante Katja und gingen unseres Weges. Wie immer kam sie mit auf die Treppe vor dem Lokal und winkte, bis wir um die Ecke verschwunden waren.
    Mel begann mir auf die Eier zu gehen, er wollte unbedingt wissen, worüber ich mit Onkel Kostitsch geredet hatte. Bei der Vorstellung, ihm den ganzen Inhalt unseres Gesprächs nacherzählen zu müssen, gefror ich zu Eis, aber sein reines Gesicht ließ das Eis wieder tauen.
    Also erzählte ich ihm alles. Als ich an die Stelle kam, wo Onkel Kostitsch mich nach Haken fragte, blieb Mel plötzlich wie ein Laternenmast stehen:
    »Du hast ihm doch nichts gesagt, oder?«
    Er war wütend, und das war ein schlechtes Zeichen, denn wenn Mel wütend war, endete es meist damit, dass wir uns prügelten, und da er vier Mal schwerer war als ich, kriegte ich immer was ab. Nur ein einziges Mal habe ich ihn umgehauen, aber da waren wir auch erst sechs: Ich hatte ihm mit einem Stock auf den Kopf gehauen und ihm verletzt, wobei mir der Umstand zu Hilfe kam, dass er sich mit Armen und Beinen in einem Fischernetz verfangen hatte.
    Jetzt stand Mel reglos auf dieser Straße, mit finsterer Miene und geballten Fäusten. Ich sah ihn an und kapierte einfach nicht, was mit ihm los war.
    »Was meinst du mit ›nichts‹? Ich hab gesagt, was ich denke ...« Ich konnte den Satz nicht beenden, denn plötzlich warf Mel mich in den Schnee und fing an, auf mich einzuschlagen und zu brüllen, ich wäre ein Verräter.
    Während er mich mit Fäusten traktierte, steckte ich heimlich die rechte Hand in die Jackentasche mit dem Schlagring. Ich steckte die Finger durch die Löcher, zog blitzschnell die Hand raus und verpasste ihm eine. Es war mir nicht egal, dass ich ihn ausgerechnet am Kopf traf, wo er schon so viele Traumen und Schmerzen erlitten hatte, aber es war nun mal der einzige Weg, ihn zu stoppen. Tatsächlich ließ er von mir ab und setzte sich neben mir in den Schnee.
    Ich lag keuchend da und kam nicht hoch, ich schaute ihn nur an und beobachtete, was er tat. Er betastete die Stelle, wo ich ihn getroffen hatte, und trat mit angewidertem Gesicht noch einmal nach mir, mehr aus Verachtung als um mir wehzutun.
    Als ich wieder zu Atem gekommen war, stützte ich mich auf die Ellbogen:
    »Sag mal, was ist denn in dich gefahren? Wolltest du mich umbringen? Was hab ich denn gesagt?«
    »Du hast über Haken geplaudert, und jetzt kriegt er Probleme. Er hat mir das Leben gerettet, er ist unser Bruder. Warum hast du für Onkel Kostitsch den Spitzel gespielt?«
    Bei diesen Worten kriegte ich einen Krampf, ich konnte es nicht glauben. Ich rappelte mich auf, klopfte mir den Schnee von Jacke und Hose und drehte ihm den Rücken zu. Diesmal sollte er seine Lektion gründlich lernen.
    »Ich habe zu Hakens Gunsten gesprochen, du Idiot, ich habe ihn verteidigt«, sagte ich. »Und so Gott will, wird Onkel Kostitsch uns helfen, damit er aus dem Schlamassel wieder rauskommt.«
    Ich stapfte los und wusste schon, was passieren würde. Gut eine Stunde lang würden wir wie zwei Schauspieler durch die Gegend laufen: ich vorneweg, wie der gerade vom Kreuz herabgestiegene Jesus, mit hocherhobenem Kopf und einem Blick voller Versprechen, filmreif auf den Horizont gerichtet, und dahinter kleinlaut Mel, mit hängenden Schultern und einem Gesicht, als hätte er gerade was Peinliches angestellt, hüpfend wie der Glöckner von Notre-Dame und mit weinerlicher, Mitleid erregender Stimme immer denselben Satz wiederholend, wie eine Litanei:
    »Komm schon, Kolima, sei nicht sauer. Ein Missverständnis, das passiert schon mal, oder?«
    Leck mich am Arsch, dachte ich, leck mich am Arsch!

    So ließen wir das Zentrum und die letzten Reihen alter dreigeschossiger Häuser hinter uns. Wir mussten einen Park durchqueren, bis zu einem schrecklich tristen Gebäude, das vor zwei Jahrhunderten erbaut worden war, um die russische Zarin auf ihren Reisen in die Grenzgebiete zu beherbergen. Ich verstehe nichts von Architektur,

Weitere Kostenlose Bücher