Sibirische Erziehung
schöneres, eins mit ner nackten Frau drauf ...«
»Na, dann meinetwegen ...« Der Trick mit der nackten Frau hatte funktioniert, Mel dachte jetzt, er hätte ein Geschäft gemacht. »Aber denk dran, Kolima, mit nackter Frau drauf, du hast es versprochen!«
»Was ich verspreche, das halte ich auch«, antwortete ich und nahm das Feuerzeug aus seiner schweren, arglosen Hand.
Ein Päckchen war angebrochen, es fehlten ein paar Zigaretten. Ich steckte das Feuerzeug hinein, wickelte die Schnur drum und band eine Schleife, wie bei einem Geschenk. Zuletzt klemmte ich noch mein sauberes Stofftaschentuch, mehr hatte ich nicht dabei, zwischen die beiden Päckchen. Dann begann ich an der Schnur zu ziehen. Als mein Bündel das Fenster erreichte, streckte der Mann die Hand durch die Gitter, und seine Freudenschreie drangen bis zu uns.
Ich hielt jetzt das Tütchen der Kranken in der Hand und öffnete es: darin lag ein zerfledderter, dreckiger und feuchter Geldschein. Ein Rubel. Auf einem Zettel stand: »Tut uns leid, mehr haben wir nicht.«
Ich rührte diesen Rubel nicht an, ich schloss das Tütchen und zerrte an der Schnur, um die Kranken aufmerksam zu machen. Der Mann am Fenster zog die Schnur zu sich heran, nahm seinen Rubel wieder und schrie mir zu:
»Danke für alles!«
»Gott segne euch, Leute!«, schrie ich aus Leibeskräften zurück.
Von rechts kam sofort ein Wachmann angelaufen, der mit der Kalaschnikow rumfuchtelte und rief:
»Weg da von der Mauer, weg oder ich schieße!«
»Halt deine beschissene Schnauze, verfickter Scheißköter!«, antworteten Mel und ich gleichzeitig, allerdingsnicht mit den gleichen Worten: aber die Message war die gleiche.
Gemächlich setzten wir unseren Weg fort. Dann drehten wir uns um. Der Bulle stand da und starrte uns hasserfüllt an. Der Kranke sah uns vom Fenster aus zu: Er lächelte und rauchte eine Zigarette.
»Den Rubel hättest du schon nehmen können«, sagte Mel nach einer Weile.
Ich konnte ihn nicht umbringen, er war ja mein bester Freund, deshalb machte ich das, was Großvater Kusja mich gelehrt hatte, wenn einer die wesentlichen Dinge nicht kapiert: Ich wünschte ihm viel Glück. Mein Freund Mel war ein echter Schwachkopf, und er ist es noch: Er hat sich mit den Jahren nicht gebessert, wenn überhaupt, ist es schlimmer geworden.
Es war jetzt nicht mehr weit bis zum Eisenbahnviertel, wo Mel seine Botschaft abliefern musste. Wir ließen das Krankenhaus hinter uns und gingen an den Lebensmittellagern vorbei. Ein Ort, den wir gut kannten, weil wir dort nachts oft einbrachen.
Es war ein alter Gebäudekomplex, vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts, der aus zahlreichen fensterlosen Backsteingebäuden mit hohen Mauern bestand. Eisenbahngleise führten daran vorbei, so dass die Züge direkt vorfahren und die Waggons rasch be- oder entladen werden konnten.
Um dort drinnen zu klauen, musste man kein Einbrecher sein, man brauchte nur ein bisschen Diplomatie. Wir brachen nie die Türen auf, wir hatten unseren Mann drinnen, einen Verbindungsmann, eine Art Maulwurf, der uns benachrichtigte und den richtigen Zeitpunkt verriet. Normalerweise blieben die Züge nach dem Beladen noch eine Weile dort stehen, die Lokführer schliefen ein paarStunden und fuhren erst bei Sonnenaufgang weiter. Deshalb räumten wir die Waggons nachts aus: Es war viel einfacher, in den Zügen zu arbeiten, als die Lagertüren aufzubrechen. Wir luden alles ins Auto und machten uns aus dem Staub.
Die Züge fuhren in die Staaten des Warschauer Pakts, meist nach Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. Sie transportierten Zucker, Konserven, haltbare Lebensmittel. Manchmal waren sie halb mit Kleidung, warmen Mänteln, Arbeitsanzügen, Handschuhen und Soldatenuniformen beladen. Ab und zu stießen wir sogar auf Elektrogeräte, Bohrer, Schläuche, Eisenwaren, Elektroöfen, Ventilatoren. Bei solchen Gelegenheiten fuhren wir dann schon mal drei, vier Fuhren und schafften so viel wie möglich fort. Aber es gelang uns nie, alles im Auto zu verstauen: Zum Glück ließ unser Mann uns die Ware in Verstecken im Lagerhaus zwischenlagern.
Unser Maulwurf war nämlich der Wachmann des Lagers, ein Japaner, der sich, seit er unter Russen lebte, Borischka nannte.
Er war schon alt und war Ende der vierziger Jahre, nach dem Sieg der Russen im Zweiten Weltkrieg, im Zuge der zweiten Deportationswelle zusammen mit den Sibirern in Bender gelandet.
Er war an der russisch-japanischen Front während der Schlacht am Chalchin-Gol in
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