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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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begannen die Jungen die Alten umzubringen: Damals war das praktisch an der Tagesordnung.
    Auch der Weiße fiel einem Attentat zum Opfer. Er stieg gerade mit seinen Männern aus dem Auto, als aus einem vorbeifahrenden Wagen das Feuer eröffnet wurde. Auf der Straße befanden sich zahlreiche Passanten, und die Attentäter verletzten mehrere mit ihren Kalaschnikows. Der Weiße hätte sich hinter dem gepanzerten Wagen in Sicherheit bringen können, doch er stellte sich vor eine Frau in Reichweite der Kugeln, um sie mit seinem Körper zu schützen. Schwer verletzt starb er ein paar Tage später im Krankenhaus. Bevor er starb, bat er seine Leute, die Frau zu suchen, sie in seinem Namen für das Gescheheneum Verzeihung zu bitten und ihr Geld zukommen zu lassen. Diese Geste sorgte für so viel Aufsehen unter den Kriminellen, dass die Attentäter Reue zeigten und die Alten um Verzeihung baten, aber dann brachten sie sich doch weiter gegenseitig um, und mein Onkel pflegte dies so zu kommentieren: »Ein einziges Kuddelmuddel, da blickte nur noch Jesus Christus allein durch.«
    Jedenfalls genoss der Weiße in unserer Gemeinschaft einen sehr guten Ruf. Als ich deshalb hörte, sein Sohn sei in der Stadt und habe seine Heimat verlassen müssen, weil sich nach dem Tod des Vaters viele Leute an ihm, dem Sohn, rächen wollten, konnte ich es gar nicht erwarten, ihn kennenzulernen. Ich erzählte das auch gleich meinem Onkel, doch der sagte, der Weiße hätte keine Kinder und keine Familie gehabt, weil er nach den alten Regeln der Tschornaja mast lebte, die es ihm ja untersagten, zu heiraten und Kinder zu kriegen. »Er war allein wie ein Pfahl in der Steppe«, versicherte mein Onkel mir.
    Als ich dem Geier eine Weile später begegnete, redete ich nicht lang drumrum, sondern kam gleich zur Sache und beendete die Maskerade. Wir prügelten uns, und ich behielt die Oberhand, doch von dem Tag an hasste der Geier mich und versuchte sich zu rächen, wo es nur ging.
    Eines Abends im Winter 1991 ging ich gegen Mitternacht sturzbetrunken von einem Fest nach Hause. Mel war bei mir, genauso besoffen wie ich. An der Grenze zwischen unserem Viertel und dem Zentrum tauchte plötzlich der Geier mit drei Kumpels auf; sie überholten uns auf ihren Rädern, stellten sich uns in den Weg, und der Geier zog eine abgesägte doppelläufige Schrotflinte Kaliber 16 aus der Jacke und schoss zweimal auf mich. Er zielte auf meine Brust, die Patronen waren mit zerkleinerten Nägeln gefüllt. Mein Glück, dass sie die Patronen schlecht präpariert hatten: In die eine hatten sie zu vielSchießpulver und zu wenige Nägel getan und den Stopfen zu weit hineingedrückt; deshalb explodierte sie innen, und der Flammenrückschlag verbrannte dem armen Irren die Hand und einen Teil des Gesichts. Bei der anderen hatten sie es genau andersrum gemacht: Sie hatten zu viele Nägel und zu wenig Pulver reingetan und offensichtlich den Stopfen nicht festgedrückt, so dass die Nägel mit geringer Geschwindigkeit herausflogen und nur meine Jacke ein bisschen zerfetzten; einer drang sogar bis zu meiner Haut durch, aber es hat so wenig weh getan, dass ich das leicht gerötete Bläschen erst ein paar Tage später bemerkte. Mel stürzte sich mit bloßen Händen auf sie, legte einen flach und zerstörte sein Fahrrad, und da machten sie sich aus dem Staub.
    Nach dieser Episode erwischte ich den Geier mit Hilfe unserer ganzen Bande und verpasste ihm drei Messerstiche in den Oberschenkel, wie es bei uns üblich ist, wenn man jemanden verachtet. Er gab sich nicht geschlagen und erzählte weiter herum, dass er sich rächen wolle. Aber damals war der Geier noch ein Niemand, nur einer von vielen halbwüchsigen Kriminellen aus dem Eisenbahnviertel. Später legte er aber eine grandiose Karriere hin, er war zum Chef einer Horde Schwachköpfe aufgestiegen, mit denen er Dinge anstellte, für die wir von unserer Gemeinschaft mindestens die Eier abgeschnitten bekommen hätten.

    Als wir an jenem Februartag das Eisenbahnviertel betraten, dachte ich nur daran, die Sache möglichst schnell hinter mich zu bringen und nicht meinem bescheuerten persönlichen Feind über den Weg zu laufen. Um Mel nicht mit dieser Geschichte zu belasten und ihn nicht unnötig nervös zu machen, denn das konnte schlimme Folgen haben, versuchte ich, mit ihm über das Geburtstagsfest zusprechen, das ich abends veranstalten wollte, über das Essen, das meine Mutter für uns vorbereitet hatte. Er hörte aufmerksam zu, und seinem

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