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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gesicht sah man an, dass er innerlich schon dort war, bei Tisch, und alles allein aufaß.
    Wie bei uns stellten die Halbwüchsigen auch im Eisenbahnviertel Wachen auf und verfolgten genau, wer das Viertel betrat oder verließ, und machten den Erwachsenen Meldung. Wir wurden sofort von einer Schar Sieben- bis Zehnjähriger entdeckt. Wir durchquerten gerade den ersten Hof des Viertels, wo sie in einer Ecke hockten, einem strategisch günstigen Ort, von dem aus man gut die beiden Straßen einsehen konnte, die vom Park ins Viertel führten. Der Größte sagte was zum Kleinsten, und der sprang auf und kam wie eine Pistolenkugel auf uns zu gerannt. Das machten wir in unserem Viertel anders: Wenn wir uns einem Neuankömmling näherten, dann in der Gruppe, nie schickten wir einen allein, und schon gar nicht den Kleinsten. Normalerweise gingen wir auch nie direkt auf jemanden zu, sondern versuchten es so einzurichten, dass derjenige zu uns kam, so dass wir von Anfang an eine überlegene Position einnahmen.
    Der Junge sah aus wie ein kleiner Fixer, er war mager und hatte blaue Ringe unter den Augen, ein eindeutiges Indiz, dass er Klebstoff schnüffelte: Viele Kinder im Eisenbahnviertel knallten sich auf diese Weise weg. Wir verarschten sie immer und nannten sie »Tüten-Liebchen«, weil sie immer eine Plastiktüte dabeihatten. Sie träufelten ein bisschen Kleber hinein und steckten dann den Kopf in die Tüte. Viele erstickten dabei, weil sie nicht mal mehr die Kraft hatten, sich die Tüte vom Kopf zu ziehen; man fand sie in rauen Mengen in irgendwelchen Löchern der Stadt, in Kellern oder Heizungsräumen, wo sie ihren Unterschlupf hatten.
    Der Knirps stellte sich vor uns hin, wischte sich dielaufende Nase am Ärmel ab und sagte mit einer Stimme, die der Klebstoff ruiniert hatte:
    »Stehenbleiben, wo wollt ihr hin?«
    Damit er kapierte, wer wir waren, gab ich ihm einen Schnellkurs in Erziehung.
    »Wo hast du denn deine guten Manieren gelassen? Bei deiner Plastiktüte in der Tasche? Hat man dir nicht beigebracht, dass es Orte gibt, wo man leicht als Baklan 2 endet, wenn man die Leute nicht grüßt? Geh zu deinen Freunden und sag ihnen, sie sollen herkommen und sich anständig vorstellen, wenn sie sich unterhalten wollen. Sonst gehen wir nämlich einfach weiter, als ob sie Luft wären!«
    Kaum hatte ich ausgesprochen, machte er auf dem Absatz kehrt und wetzte durch den Schnee davon.
    Gleich darauf kam die ganze Abteilung anmarschiert, vorneweg der Anführer, ein Jüngelchen um die zehn, der sich ein kriminelles Aussehen geben wollte, indem er den Tschetki in der Hand kreisen ließ, eine Kugel aus einem Stück Brot, womit Taschendiebe die Finger trainieren, sie beweglicher und sensibler machen.
    Er sah uns eine Weile an und sagte dann:
    »Ich heiße ›Bart‹, guten Tag, wo wollt ihr hin?« Seine Stimme hatte etwas Erloschenes an sich. Auch ihn hatte der Klebstoff schon ruiniert.
    »Ich heiße Nicolai ›Kolima‹«, antwortete ich. »Und der hier ist Andrej ›Mel‹, wir kommen aus der Unterstadt. Wir müssen einem von euren Alten einen Brief überbringen.«
    Bart schien aufzuwachen.
    »Kennt ihr ihn persönlich?«, fragte er plötzlich ganz freundlich. »Kennt ihr den Weg, oder soll euch jemand begleiten?«
    Komisch, dachte ich. Ist noch nie vorgekommen, dass jemand aus dem Eisenbahnviertel anbietet, mich zu begleiten, die sind doch berühmt für ihre Unhöflichkeit. Vielleicht haben sie Befehl, dass sie Fremde nicht allein durchs Viertel gehen lassen dürfen. Da hätten sie aber viel zu tun, denen allen zu folgen, da wären sie ja Tag und Nacht unterwegs.
    Wir kannten weder den Empfänger noch die Adresse.
    »Der Brief ist für einen, der Fedor ›Finger‹ heißt. Wenn ihr uns den Weg erklärt, finden wir schon allein hin, danke.« Ich versuchte ihn abzuwimmeln. Ich weiß nicht warum, aber ich witterte Unheil in diesem Angebot.
    »Gut, ich erklär’s euch«, sagte Bart und begann, wir müssten da lang, dort abbiegen und dann noch mal da und noch mal dort. Da ich das Eisenbahnviertel ganz gut kannte, war mir nach ein paar Sekunden klar, dass er uns einen riesigen Umweg gehen lassen wollte. Ich verstand aber nicht, wieso, und deshalb hörte ich ihm bis zu Ende zu und tat so, als wäre nichts. Dann sagte ich extra, wie um ihm recht zu geben:
    »Das ist ja ganz schön kompliziert. Die Straße finden wir nie allein.«
    Sein Gesicht hellte sich auf wie ein Geldstück frisch aus der Münze:
    »Hab ich doch gesagt, ohne einen

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