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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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insgesamt eine Viertelstunde, wobei über zehn Minuten von drei Liedern in Anspruch genommen wurden, unterbrochen von kurzen Dialogen. Das Lied, das Geschichte schrieb und das alleKinder in der Sowjetunion liebten, kam ganz zum Schluss. Begleitet von einer fröhlichen, anrührenden Musik, sang eine Mädchenstimme vom glücklichen und sorgenfreien Leben auf der Insel Tschunga-Tschanga:

    Tschunga-Tschanga, wunderbare Insel,
    Wo das Leben einfach ist,
    Wo das Leben einfach ist,
    Tschunga-a-a—Tschanga-a-a!

    Tschunga-Tschanga, der Himmel ist immer blau,
    Tschunga-Tschanga, wir sind immer fröhlich,
    Tschunga-Tschanga, unser Glück ist unvergleichlich,
    Tschunga-Tschanga, bei uns gibt’s kein Problem!

    Unser Glück ist unendlich,
    Kau ’ne Kokosnuss und iss Bananen
    Kau ’ne Kokosnuss und iss Bananen
    Tschunga-a-a—Tschanga-a-a!

    Hinter den Lebensmittellagern kamen endlich die ersten Häuser des Eisenbahnviertels in Sicht. Ein Viertel, das der Tschornaja mast gehörte, wo andere Regeln galten als bei uns. Wir mussten uns gut benehmen, sonst riskierten wir unser Leben.
    Die Jungen dort waren ziemlich grausam, durch brutale Gewalt versuchten sie sich bei den anderen Respekt zu verschaffen. Die Macht hatte unter den Halbwüchsigen eher symbolischen Wert, die einen konnten den anderen zwar befehlen, aber von den erwachsenen Kriminellen wurden sie nicht ernstgenommen. Klar, dass die Jugendlichen es deshalb nicht erwarten konnten, erwachsen zu werden, und um sich die Wartezeit zu verkürzen, führten viele sich wie sadistische, gesetzlose Arschlöcher auf. Beiihnen wurden die kriminellen Gesetze ins Absurde entstellt, sie verloren ihren Sinn und dienten nur noch als Vorwand für Gewaltexzesse. Zum Beispiel trugen sie nichts Rotes, weil das die Farbe der Kommunisten sei: Jemand, der etwas Rotes anhatte, wurde von der Tschornaja mast nicht selten sogar gefoltert. Natürlich kannten alle, die im Eisenbahnviertel aufwuchsen, diese Regel und zogen niemals etwas Rotes an, aber wenn man mit jemandem Streit hatte, musste man ihm nur heimlich ein rotes Taschentuch zustecken und losschreien, er sei ein Kommunist. Der Pechvogel wurde sofort durchsucht, und wenn das Taschentuch zum Vorschein kam, half alles Erklären nichts, dann war er dran.
    Dieser unentwegte Kampf um die Macht, Großvater Kusja nannte ihn »Wettlauf der Bastarde«, war überall im Viertel zu spüren. Um eine perfekte Autorität unter den Halbwüchsigen des Eisenbahnviertels zu werden, musste man dauernd seine Familie betrügen, durfte keine Freundschaften pflegen und musste höllisch aufpassen, nicht selbst verraten zu werden, musste den erwachsenen Kriminellen in den Hintern kriechen und sämtliche Erziehung über Bord werfen, die von einem positiven Umgang mit Menschen herrührte.
    Diese Jungen waren in dem Glauben aufgewachsen, um sie herum seien nur Feinde, deshalb kannten sie auch nur eine Sprache: die Provokation.
    Doch wenn es dann zur Sache ging, änderten sie ihr Verhalten. Manche Gruppen prügelten sich mit Anstand, und von denen waren viele unsere Freunde. Andere hingegen versuchten immer, »hinter der Ecke zu lauern«, wie man bei uns sagte: also von hinten anzugreifen und keine Abmachung zu respektieren; selbst wenn man vorher vereinbart hatte, keine Schusswaffen zu benutzen, waren sie fähig, einen zu erschießen.
    Sie waren in Gruppen organisiert, die bei ihnen aber nicht »Banden« hießen, weil sie dieses Wort zu offensiv fanden, sondern Kontora , was in der Kriminellensprache so viel wie »Polizei« bedeutet. Jede Kontora hatte ihren Anführer beziehungsweise Bugor , das heißt »Hügel«.
    Ich hatte einen alten Streit mit einem Bugor aus diesem Viertel: Er war ein Jahr älter als ich und ließ sich »Geier« nennen. Der Geier war ein verlogener Idiot, der vier Jahre zuvor in unsere Stadt gekommen war und sich als Sohn eines berühmten Kriminellen mit dem Beinamen »der Weiße« ausgegeben hatte. Mein Onkel kannte den Weißen sehr gut, sie hatten zusammen gesessen, und er hatte mir seine Geschichte erzählt.
    Der Weiße gehörte zur Tschornaja mast, aber er war einer von der alten Schule. Er begegnete den Leuten mit Respekt, er war nie anmaßend, immer bescheiden. In den Achtzigerjahren versuchte eine Gruppe von jungen Mitgliedern der Tschornaja mast die älteren Autoritäten zu verdrängen – mit dem einzigen Ziel, Geld zu machen und sich als Geschäftsleute in der Zivilgesellschaft zu etablieren. Als die Alten sich zur Wehr setzten,

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