Sibirische Erziehung
es. Auch wir waren die Mörderbastarde anschauen gegangen, die kopfüber auf der Terrasse der verlassenen Schule hingen: Ihre Körper waren angeschwollen und ganz schwarz von den Schlägen. Mein Blick fiel auf die Mauern: Sie waren sehr dick; niemand hat die Schreie des Mädchens gehört, dachte ich. Es muss schrecklich sein, auf diese Art zu sterben, im Wissen, dass nur ein paar Meter von dieser Hölle entfernt die Leute ruhig in ihren Häusern lebten, ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen und nicht die leiseste Ahnung von dieser Qual hatten. Bei dem Gedanken daran musste ich weinen: Jedes Geräusch, das man hier drinnen macht, bleibt stecken, aber das war natürlich nichts im Vergleich zu dem, was diese arme Seele durchgemacht haben musste.
Vor der Schule stieß ich Mel leicht mit dem Ellbogen an und gab ihm zu verstehen, dass er den Tanz eröffnen sollte.
»Ich halt’s nicht mehr aus, Leute«, begann er auch sofort. »Meine Blase drückt. Lasst uns kurz wo hingehen, wo ich in Ruhe ›auf den Zug warten‹ kann.«
Mit leicht besorgter Miene sah Bart erst Mel und dann mich an, vielleicht wollte er etwas erwidern, aber er ließ es lieber, damit wir nicht stutzig wurden, und sagte nur:
»Ist gut, komm, ich zeig dir wo. Hier, in der Schule.«
Sobald wir in dem Gebäude waren, gab Mel Bart von hinten einen Schubs, und der fiel bäuchlings auf den gefrorenen Boden. Verschreckt drehte er sich zu uns um:
»Was soll das, seid ihr verrückt geworden?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Wenn hier einer verrückt ist, dann du, wenn du glaubst, du kannst uns hier verarschen ...«, sagte ich, während Mel zu Demonstrationszwecken sein Messer auf- und zuschnappen ließ; irgendwie traurig und sehnsüchtig drehte er es in der Hand hin und her. Über die schmutzigen, von vulgären Inschriften bedeckten Wände huschten die glitzernden Reflexe der Klinge.
Langsam ging ich auf den am Boden liegenden Bart zu, und er wich mit der gleichen Geschwindigkeit zurück, bis er gegen die Wand stieß. Ich tat so, als wüsste ich alles, er sollte meinen, dass er einen Fehler gemacht hatte und in Gefahr war:
»Wir sind hergekommen, weil jetzt Schluss ist mit dem Theater ... Keine gute Idee, Leute aus der Unterstadt verarschen zu wollen, wirst sehen.«
»Tut mir nichts, ich hab nichts damit zu tun!« Bart sang von ganz allein. »Ich weiß nichts über eure Geschichte, ich führe nur den Befehl des Geiers aus ...«
»Was für einen Befehl?«, fragte ich und bohrte die Stiefelspitze in seine Hüfte.
»Dass wir alle aus der Unterstadt, die sich blicken lassen, sofort zu ihm bringen sollen!« Er war kurz vor einem Nervenzusammenbruch, seine Stimme war nur noch ein mattes Krächzen.
Mel kam näher und stieß die Klinge des Messers langsam durch die Kleidung, und bei jeder Bewegung weinte der Junge heftiger, mit geschlossenen Augen, und flehte, wir sollten ihn nicht töten. Genauer gesagt, er flehte mich an, denn dass Mel ihn unbedingt umbringen wollte, stand für ihn fest.
Ich wartete ein bisschen, um ihn richtig weichzukochen, und als ich merkte, dass er so weit war, dass er mir nichts mehr verweigern konnte, machte ich ihm einen Vorschlag:
»Du sagst mir jetzt, wo wir Finger finden können, wir übergeben den Brief, und du bist gerettet. Aber versuch nicht, uns zu verarschen, wir kennen uns gut in eurem Scheißviertel aus, wir merken es, wenn du uns zur falschen Adresse schickst. Und falls wir Finger zufällig nicht antreffen sollten, machen wir dich kalt, aber nicht mit dem Messer: Wir schlagen dich tot und brechen dir sämtliche Knochen ...«
Im Nu hatten seine Worte den richtigen Weg zu Fingers Haus in die Luft gemalt.
Wir beschlossen, Bart in der Schule einzusperren, damit er uns keinen Strich durch die Rechnung machte. Im Kellergeschoss fanden wir eine Tür, die sich von außen verschließen ließ, indem man den Eisengriff mit einem Brett blockierte. Der Raum war kalt und dunkel, ein richtiges Loch. Wie geschaffen für Bart, der unterwürfig darauf wartete, sein Schicksal zu erfahren.
»Wir schließen dich hier ein, und bis das einer merkt, ist es Sommer. Wenn du gelogen hast und wir Schwierigkeiten bekommen, falls wir zufällig kaltgemacht oder sonstwie schlecht behandelt werden, bleibst du hier und verfaulst, dann stirbst du ganz für dich allein. Wenn alles gutgeht, sagen wir irgendwem, wo du bist, und man wird dich befreien. Klaro? Du wirst leben, aber vergiss unsere persönliche Gratislektion nicht.«
Mel
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