Sibirische Erziehung
Führer ...«
»Dann los, du Besserwisser«, gab ich lächelnd klein bei. »Gehen wir, zeig uns den Weg!«
Ich forderte absichtlich ihn auf, um den Ernst der Lage abschätzen zu können. Der Anführer einer Gruppe, die ein Viertel überwacht, verlässt seinen Posten nie; wenn nötig, schickt er einen seiner Leute. Ich stellte ihn also auf die Probe: Wenn er sich weigerte, uns zu begleiten, konnte ich beruhigt sein, aber wenn er einwilligte, dann hatte er Befehl, uns an einen bestimmten Ort zu lotsen, und uns stand Übles bevor.
»Prima, gehen wir!«, antwortete er fast singend. »Ich sag nur schnell meiner Kontora Bescheid, dann komme ich.«
Während Bart in einer Ecke mit seinen Leuten sprach, teilte ich Mel meine Befürchtungen mit.
»Die mach ich platt«, meinte er nur.
Ich sagte ihm, dass ich das für keine besonders gute Idee hielt. Wenn wir diese hier platt machten, mussten wir sofort aus dem Viertel verschwinden, ohne den Brief überbracht zu haben. Wie hätten wir dann vor unserem Wart dagestanden?
»Beschissen, Mel, echt beschissen. Was sollen wir ihm sagen? ›Wir haben den Brief nicht überbracht, weil wir so eine Vermutung hatten, und deshalb haben wir neunjährige Kinder zusammengeschlagen, die obendrein völlig zugedröhnt waren‹?«
Ich schlug ihm einen anderen Plan vor, der allerdings riskanter war: Wir sollten uns von Bart führen lassen und ihn am erstbesten geeigneten Ort »spalten«, was in unserem Slang so viel bedeutet wie gewaltsam die Wahrheit aus jemandem herausholen.
Wir mussten herausfinden, was da lief, und die richtige Adresse von diesem Finger ausfindig machen, erklärte ich Mel. Wenn wir dann merkten, dass das Risiko zu hoch war, konnten wir immer noch umkehren und dem Wart alles erzählen; war das Risiko gering, würden wir den Brief überbringen und dann eben nach unserer Rückkehr alles erzählen, so dass wir die Helden im Viertel wären.
Der letzte Teil meiner Erläuterung gefiel ihm besonders. Die Vorstellung, mit einer ruhmreichen Geschichte in die Unterstadt zurückzukehren, fand er richtig attraktiv. Er klatschte meiner genialen Strategie Beifall. Ich lächelte und versicherte, alles werde gutgehen, doch in mir drin hatte ich da so meine Zweifel.
Die Jungen von Barts Bande standen unterdessen im Kreis um ihn herum, einer sah zu uns herüber und lachte. Sie dachten wohl, wir säßen schon in der Falle, und alles liefe wie geschmiert ...
Ich schärfte Mel ein, so zu tun, als ob nichts wäre, und als Bart zurückkam, lächelte Mel ihn so breit und falsch an, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Wir machten uns auf den Weg. Bart ging zwischen uns beiden, wir redeten über dies und das. Wir durchquerten ein Dutzend leere Höfe: Bei der Kälte blieben die Leute lieber im Haus.
Wir kamen an einer geschlossenen, halb zerstörten alten Schule vorbei, wo sich im Sommer die Jugendlichen aus dem Eisenbahnviertel trafen, um Unfug anzustellen. Zwei Jahre zuvor war dort ein Mädchen brutal ermordet worden, eine arme Unglückliche ohne Familie, die ihren Körper verkaufen musste, um zu überleben. Es waren ihre Freunde gewesen, Jugendliche wie sie selbst, für die sie auf den Strich gehen musste, und hinterher nahmen sie ihr das bisschen Geld ab, das sie verdient hatte. Sie hatten sie ermordet, weil sie aussteigen und in einem anderen Viertel leben wollte, wo sie eine Stelle als Hilfsschneiderin gefunden hatte.
Die Geschichte war deshalb so erschütternd, weil sie sie fast drei Tage lang vergewaltigt und gefoltert hatten: Sie hatten sie an einen alten Bettrahmen ohne Drahtgitter gefesselt, und dort hing sie die ganze Zeit, Handgelenke und Knöchel hielten dem Gewicht ihres Körpers irgendwann nicht mehr stand und brachen. Als man sie fand, hatte sie am ganzen Leib Schnittwunden und im Gesicht Abdrücke von brennenden Kippen, in den Anus hatte man ihr eine große Rohrzange und in die Vagina einen Tauchsieder gesteckt, mit dem sie ihr Brandwunden zufügten, damit sie noch mehr litt.
Anfangs versuchten die Leute aus dem Eisenbahnviertel, den schrecklichen Mord zu vertuschen, aber schon bald wusste die ganze Stadt davon, und die kriminellen Autoritäten schalteten sich ein. Sie setzten dem Wart des Eisenbahnviertels eine Frist von wenigen Tagen, um sämtliche Beteiligten ausfindig zu machen und mit Stöcken totzuprügeln; ihre Körper sollten eine Woche lang am Tatort aufgehängt werden und dann in einem Grab ohne Kreuz und Inschrift verscharrt werden.
Und so geschah
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