Sibirische Erziehung
sagte er zu mir und holte aus der Tasche eine verblasste Plastikfigur, die er immer bei sich trug, einen Indianerkrieger in Kampfhaltung mit einem Messer in der Hand. »Siehst du? Er hat ein Messer, deshalb kann er nicht schwul sein, denn die hätten ihm doch nicht erlaubt, eine Waffe zu entehren!«
Schön, wie er unsere sibirischen Regeln einfach auf die Indianer übertrug. Ein »Hahn«, also ein Homosexueller, ist bei uns tatsächlich ein Ausgestoßener: Entweder er wird getötet, oder ihm wird jeder Kontakt zu den Leuten verboten, vor allem aber darf er keine Kultgegenstände wie Kruzifix, Messer und Ikonen berühren.
Ich hatte nicht die Absicht, Mel von seinen heterosexuellen Indianerphantasien abzubringen. Ich wollte mich nur amüsieren. Deshalb konzentrierte ich meine Sticheleien auf ein Thema, das ihm heilig war: das Essen.
»Da gibt’s aber keinen Borschtsch«, sagte ich so dahin.
Mel war sofort alarmiert. Er reckte den Hals:
»Was meinst du damit, da gibt’s keinen Borschtsch? Und was essen die dann?«
»Hm, ehrlich gesagt gibt’s da überhaupt nicht viel zu essen, es ist so heiß, da brauchen die kein Fett, um die Kälte auszuhalten, die geben sich mit den Früchten zufrieden, die an den Bäumen wachsen, ab und zu mal ein Fisch ...«
»Gebratener Fisch ist gar nicht schlecht«, sagte Mel im Versuch, die Ehre der tropischen Küche zu retten.
»Von wegen gebraten, die kochen nichts, die essen alles roh.«
»Und was für Früchte sind das?«, fragte er niedergeschlagen.
»Kokosnüsse.«
»Und wie schmecken die?«
»Lecker.«
»Woher willst du das wissen?«
»Mein Onkel hat in Odessa einen Freund, der ist Seemann. Letzte Woche hat er mir eine Kokosnuss mit Milch drin mitgebracht.«
»Milch?«
»Ja, Milch. Nur dass die nicht von der Kuh kommt, sondern vom Baum, die ist in der Nuss drin.«
»Das gibt’s doch nicht, zeig mal!« Plötzlich war er Feuer und Flamme, und seine ganze Erscheinung zeigte mir, dass er den Köder geschluckt hatte. Ich musste nur noch die Schnur einholen.
»Die Frucht haben wir leider schon gegessen, aber wenn du willst, kannst du den Rest Milch haben, der noch übrig ist.«
»Ja, lass mal probieren!« Er sprang auf den Stuhl, so gierig war er auf diese Milch.
»Na gut, ich geb sie dir, ich hab sie in den Keller gestellt, ins Kühle. Warte kurz, ich bring sie dir.«
Ich kringelte mich vor Lachen, während ich zum Geräteschuppen lief, wo Großvater alles Wichtige und Unwichtige für Haus und Garten aufbewahrte. Ich nahm eine Blechtasse, tat ein bisschen Gips und Kalk hinein. Damit das Gemisch die richtige Konsistenz bekam, fügte ich Wasser und etwas Fliesenkleber hinzu. Das Ganze verrührte ich mit dem Stock, mit dem Großvater die Scheiße aus den Taubennestern kratzte. Dann brachte ich den Zaubertrank zu Mel und wünschte Wohl bekomm’s.
»Da, aber nicht alles auf einmal, lass noch was für die anderen übrig.«
Als hätte ich nichts gesagt: Im Nu hatte Mel die Tasse geleert. Dann schnitt er eine Grimasse, und in seinem guten Auge tauchte schüchtern ein Schatten des Zweifels auf.
»Vielleicht ist sie im Keller schlecht geworden, ich weiß nicht, der erste Schluck war echt lecker«, sagte er im Versuch, die Situation zu retten.
»Genau, sie muss schlecht geworden sein ...«
Von dem Tag an nannte ich ihn »Tschunga-Tschanga«, und er hat nie begriffen, wieso.
Tschunga-Tschanga war ein Zeichentrickfilm, den die Kinder in der Sowjetunion heiß und innig liebten. Er war recht schlecht gezeichnet, in der gleichen Technik, die auch für kommunistische Propagandaplakate benutzt wurde: kräftige Farben, platte Figuren ohne Nuancen, sehr stilisiert, absichtlich unstimmige Proportionen, damit es aussah wie ein Marionettentheater.
Der Zeichentrickfilm wollte die Freundschaft der Kinder dieser Welt befördern und handelte von einem kleinen sowjetischen Jungen, der ein farbiges Kind auf einer Insel besucht, die eben Tschunga-Tschanga heißt. Das sowjetische Kind hatte einen sehr entschlossenen Blick (wie alle Kommunisten und Anverwandten), ein Dampfschiff, einen kleinen Hund von ebenfalls kommunistischem Aussehen, und war gekleidet wie ein Seemann. Das farbige Kind war schwarz wie eine mondlose Nacht und trug nur ein Baströckchen oder so, seine Freunde waren ein Affe und ein Papagei; später tauchten auch noch ein Krokodil, ein Nilpferd, ein Zebra, eine Giraffe und ein Löwe auf, die sich bei den Pfoten hielten und im Kreis tanzten.
Der Zeichentrickfilm dauerte
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