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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Straßenseite, und uns den Rücken zuwandte. Borischka sah uns an, dann zeigte er auf Mel, und sein Gesicht wurde mit einem Mal ganz ernst.
    »Ich geb euch einen guten Rat, werdet euren Freund da los«, sagte er zu uns. »Bringt ihn nicht mehr mit, der richtet nur Unheil an. Ich wäre sogar bereit, ihm Geld zu geben, damit er zu Hause bleibt und nicht durch die Gegend läuft.«
    Ich tat so, als würde ich nicht verstehen, und sagte:
    »Aber Onkel Borischka ... Mel ist ein bisschen schwer von Begriff, das stimmt, aber er ist in Ordnung.«
    Borischka sah mich an, als hätte ich in einer Sprache zu ihm geredet, die er nicht verstand.
    »Ein bisschen schwer von Begriff, meinst du? Sieh ihn dir doch mal an: Der Junge ist eine Katastrophe! Der weiß selbst nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Hört zu, ich mag euch, deshalb sage ich euch, wie es ist. Ihr seid noch jung, jetzt lacht ihr über euren Freund, aber bald wird der so viel Unheil stiften, dass ihr über ihn weinen werdet.«
    Leider habe ich erst viele Jahre später begriffen, wie wahr diese Worte waren.
    Als wir weitergingen, fragte ich Mel, wieso er sich abseits gehalten hatte. Er machte ein gequältes Gesicht und sagte fast unter Tränen:
    »Erst soll ich ihn nicht grüßen, dann grüße ich ihn, und ihr schimpft mich aus, jetzt grüße ich ihn nicht, und ihr schimpft mich wieder aus! Ich kapier gar nichts mehr, dieser Borischka kann mir gestohlen bleiben!«
    Ich lachte, aber Borischka hatte recht: Eigentlich war das nicht zum Lachen. Wir hätten es schon lange erkennen müssen.

    Als wir um die zehn Jahre alt waren, sahen wir uns im Kino den Film Schild und Schwert an. Der Held, ein sowjetischer Geheimagent, glänzte in zahlreichen Actionszenen, schoss mit seiner schallgedämpften Pistole auf die kapitalistischen Feinde und machte jede Menge akrobatische Kunststückchen. Er setzte sein Leben aufs Spiel, als wäre es ganz normal, Routine, gegen das Unrecht in den NATO-Ländern zu kämpfen. Der Film war unsere Antwort auf die vielen amerikanischen und englischen Filme über den Kalten Krieg, in denen die Sowjets als dumme, unfähige Affen dargestellt wurden, die mit der Atombombe spielten und die Welt zerstören wollten. Trotz des Verbots unserer Alten hatten wir ihn uns im einzigen Kino der Stadt angeschaut (damals gab es das zweite Kino noch nicht, das auch nicht lange bestand, weil es im Krieg von1992 zerstört wurde: Ausgerechnet dort hatten sich die rumänischen Soldaten eingerichtet, und um sie auszuschalten, sprengten unsere Väter eines Nachts einfach den ganzen Komplex in die Luft, mitsamt Restaurant und Eisdiele). Egal, in dem Film sprang der Held irgendwann vom Dach eines Hochhauses, mit einem großen Schirm statt Fallschirm, und landete sanft und unbeschadet wie Mary Poppins.
    Am nächsten Tag stürzte sich Mel, ohne jemandem Bescheid zu sagen, mit einem Sonnenschirm vom Dach der Zentralbibliothek, eines dreigeschossigen Gebäudes, das in einer schönen Grünfläche mit Kastanien und Birken lag. Auf eine dieser Birken stürzte Mel, brach sich eine Hand und ein Bein, trug ein Schädeltrauma davon und rammte sich auch noch das Schirmrohr in den Bauch. Ein Meer aus Blut, die Mutter verzweifelt, er fast sechs Monate von einem Krankenhaus zum anderen.
    Um ihm begreiflich zu machen, wohin seine Einfalt ihn noch bringen konnte, verarschte ich ihn, so gut es ging. Einmal, als wir schon vierzehn oder fünfzehn waren, war Mel bei mir zu Hause, wir machten Tee, den wir in der Sauna trinken wollten. Plötzlich fing er an, von den Tropen zu reden, dass es nicht schlecht wäre, dort zu leben, dass es uns da gut gehen würde, weil es nie kalt wäre.
    »Viel zu feucht«, antwortete ich, »dauernd regnet es. Das ist eine Scheißgegend, was sollen wir da?«
    »Wenn’s regnet, gehen wir in unsere Hütte. Denk doch mal nach, auf den Inseln braucht man kein Auto, man kann mit dem Fahrrad fahren, und ein Boot hat man auch die ganze Zeit zur Verfügung. Und die Indianer ...«
    Für ihn waren die Menschen dort alle Indianer. Amerikanische Indianer. Er glaubte, dass die Eingeborenen aller Länder immer mit dem Pferd herumritten, mit bunten Federn auf dem Kopf und in Kriegsbemalung.
    »... die Indianer«, fuhr er fort, »haben es echt drauf. Wär toll, so zu werden wie sie.«
    »Das ist unmöglich«, provozierte ich ihn, »wegen der langen Haare, die sehen doch aus wie Schwule.«
    »Was? Die sind nicht schwul. Sie haben halt keine Scheren, um sie sich zu schneiden. Schau mal«,

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